Die Stunde der toten Augen
standen die Gestalten zweier anderer Soldaten, die der Fahrer jedoch nicht sehen konnte. Er steckte den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster, und der Beifahrer wachte von der hereinströmenden Kälte auf und erhob sich. Der fünfte Russe erklärte dem Fahrer, wie er zu fahren hatte. Dabei kletterte er auf das Trittbrett des Führerhäuschens, und dann schob er seine Maschinenpistole etwas höher. Er betätigte den Abzugshahn, der das Dauerfeuer auslöste, etwa eine Sekunde lang, und danach betätigte er noch zweimal kurz hintereinander den Hahn, der Einzelfeuer auslöste.
Klaus Timm sprang aus dem Schatten der Bäume auf den Weg und riß die jenseitige Tür des Führerhäuschens auf. Der Beifahrer fiel ihm entgegen.
„Meine Herren", sagte Timm, „ein Tankwagen. Und das gleich zu Anfang. Gibt das ein Feuerwerk!" Während einer der Soldaten sich auf den Führersitz schwang und den schweren Wagen auf dem Waldweg weiter zum Holzplatz fuhr, sagte er rauh zu den beiden Russen: „Los, schafft sie weg! Und laßt sie nicht so dicht beim Weg liegen!"
Der Urlaub für Leutnant Alf war sehr plötzlich gekommen. Zuerst hatte Barden angerufen und ihm mitgeteilt, daß er noch am selben Tag ein Urlaubsgesuch einreichen solle. Das hatte er sofort getan. Und bereits am Tag darauf war er zur Division beordert worden. Er übergab die Kompanie einem noch jüngeren Offizier aus dem Stab, nahm seine Urlaubspapiere in Empfang und wartete auf Barden. Der brachte es fertig, zwei Plätze in einem Flugzeug zu beschaffen, und so flogen sie noch am Abend desselben Tages mit einer Transportmaschine nach Berlin. Auf Alfs Frage, wieso er so schnell Urlaub bekommen habe, zumal er bereits im Sommer zu Hause gewesen war, antwortete der Onkel nur mit einem gemütlichen Lächeln.
Sie stiegen in Berlin zwischen zwei Luftangriffen in einen der wenigen fahrplanmäßigen Züge, und am nächsten Tage waren sie im Schwarzwald. Es war ein Idyll von Tannen, Schnee und gleißendem Sonnenlicht.
Sie brachten die Hochzeit schnell hinter sich.
Bardens Tochter war froh, als ihr Vater sich am anderen Tag verabschiedete. „Dienstreise, Ernestine. Auf dem Rückweg kommen wir noch mal vorbei. Laß es dir gut gehen inzwischen!"
Sie wußte natürlich, daß das nicht stimmte, denn sie hatte eine Schulfreundin in dem Ort, in dem sich Barden aufhielt, wenn er eine dieser Dienstreisen machte. Barden ließ zwei große Koffer, die er mitgebracht hatte, in das Auto laden, das ihn und Alf nach St. Georgen brachte. Er hatte zuvor telegrafiert, und die Zimmer waren reserviert. Als sie noch ein paar Kilometer von dem kleinen Kurort entfernt waren, wandte sich Barden leise, damit der Fahrer es nicht verstehen konnte, an Alf.
„Ich nehme an, du hast nichts gegen ein paar vergnügte Tage. Oder ..."
„Nichts", sagte Alf gelassen, „nicht das geringste. Ich kann sie brauchen. Die Front kostet Nerven."
„Eben", nickte Barden, „außerdem sind da in St. Georgen zwei sehr interessante Damen. Das wird dir auch nicht unangenehm sein."
„Damen?" erkundigte sich Alf.
„Ja, Damen. Ab und zu muß der Mensch ausspannen. Ein bißchen Wald, ein bißchen Skilaufen und ein warmer Grog am Abend, das sind Dinge, die wir brauchen. Keine langweiligen Familienfeste. Diese Hochzeit hat lange genug gedauert." Er beugte sich noch näher zu Alf und raunte ihm lächelnd zu: „Außerdem war sie eine Formalität. Man soll um solche Dinge nicht so viel Geschrei machen."
„Bist du öfter in St. Georgen?" erkundigte sich Alf.
Barden nickte. „Es ist ein schönes Städtchen. Auf irgendeine Weise zieht mich diese Gegend an. Die Ruhe und die Einsamkeit, und dabei ein gewisser Komfort, den ich schätze. Und außerdem ist es angebracht, ein bißchen weiter zu blicken. St. Georgen ist ein Nest, in dem es sich leben läßt. Du verstehst?"
„Ich verstehe", bestätigte Alf. „Was ist das für ein Hotel, in dem wir wohnen?"
„Ein gutes", antwortete Barden. „Ich kenne den Besitzer sehr lange."
„Und die Damen?"
„Alice hat ein eigenes Haus", erklärte Barden, „aber es ist besser, in einem Hotel zu wohnen."
„Ich verstehe." Alf nickte.
Barden lächelte väterlich. „Ich wußte doch, daß du ein gescheiter Junge bist. Übrigens vergaß ich ganz, dir zu sagen, daß Alice Witwe ist. Eine hochgebildete Frau. Gisela ist eine ihrer Bekannten. Sie verbringt ihre Ferien in St. Georgen. Ich glaube, sie hat ziemlich oft Ferien."
„Gisela ...", sagte Alf vor sich hin. Er versuchte, sich das
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