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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Gelegenheit haben, zu überlegen, wie Sie Ihr Leben in Zukunft besser nutzen können. Wenn der Krieg aus ist und Sie zurückkommen, werden Sie manches wissen, was Ihnen vorher unbekannt war. Sie werden neu anfangen. Eine sehr einfache Sache für Sie. Sie haben Glück gehabt."
    Bindig lächelt. Er kennt das. Warasin spricht es zum erstenmal aus, aber es hat in der Luft gelegen, seit sie einander vor zwei Tagen wieder gesehen haben.
    „Eine einfache Sache?" fragt er lächelnd. „Sie vergessen, daß Sie Offizier sind. Was geschieht in Ihrer Armee mit Leuten, die einen Deutschen, der sich in ihrem Gebiet versteckt hält, nicht ausliefern? Was geschieht mit einem Offizier, der ihn sozusagen in Sicherheit bringt, anstatt seinem Kommandeur Meldung zu erstatten?"
    „Tue ich das?" fragt Warasin zurück.
    Bindig stützt sich auf die Ellbogen. Er sieht nur die Umrisse des Russen. Ab und zu, wenn Warasin an der Zigarette zieht, ist sein Gesicht für eine Sekunde lang rötlich erleuchtet. „Hören Sie", sagt er, „machen wir uns nichts vor. Sie hätten einen Orden bekommen, wenn Sie mich erschossen hätten, als ich hier ankam. Aber das konnten Sie nicht, denn da war Anna, und Sie sind ihr verpflichtet. Und nun überlegen Sie, was zu tun ist, denn Sie wissen natürlich, was für Sie auf dem Spiel steht, wenn ich hier entdeckt werde, denn es wird bekannt sein, daß Sie gelegentlich Anna besuchen. Aber Sie können jetzt nicht mehr so einfach zu Ihrem Kommandeur gehen und mich ausliefern, denn man wird Sie fragen, weshalb Sie das nicht schon längst getan haben. Was mit Anna geschieht, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Sie würden den Rest Ihres Lebens nicht mehr den Gedanken loswerden, daß Sie einen Menschen ausgeliefert haben, der Ihnen einmal das Leben rettete. So ist die Sache. Nicht so einfach, wie Sie sie sehen."
    Sie hörten Anna über den Hausflur gehen und mit Geschirr klappern. Sie ging in den Stall, um das Vieh zu versorgen. Warasin drückte seine Zigarette aus. Dann sagte er nachdenklich: „Ich glaube, Sie machen einen Fehler. Sie machen ihn, weil Sie nicht wissen, daß unsere Armee anders ist als die, in der Sie gekämpft haben. Deshalb ist es beispielsweise für Sie unverständlich, daß ich keine Angst zu haben brauche, das zu verantworten, was ich getan habe, Es wird weder mir etwas geschehen noch Anna. Es wird auch Ihnen nichts geschehen, wenn Sie in Gefangenschaft kommen. Sie werden dort bis zum Ende des Krieges arbeiten und dabei das lernen, was man Ihnen bisher zu lernen verwehrt hat. Ich muß Ihnen das sagen, denn sonst machen Sie sich von der Lage, in der Sie sich befinden, falsche Vorstellungen."
    Eine Weile war es still. Bindig ließ sich zurücksinken und schwieg. Er hatte geahnt, daß Warasin etwas Ähnliches sagen würde. Er hatte es gefürchtet, aber es war ihm nicht so recht möglich erschienen. Nun war es klar gesagt. Es gab nichts zurückzunehmen.
    „Sie sind sehr zuversichtlich, was Ihre Kommissare betrifft ...", sagte er leise. „Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht irren?"
    Warasin mußte daran denken, was Balaschow sagen würde, wenn er vor ihm stand und das alles hier zu erklären begann. Der untersetzte, ächzende Balaschow würde ganz still sitzen und zuhören, wenn Warasin das bekannte, was er verschwiegen hatte. Er würde ihn ansehen und den Blick aus seinen kleinen, beweglichen Augen über Warasins Gesicht wandern lassen. Er würde sich kräftig am Kopf kratzen und in den Taschen nach Streichhölzern für seine Zigarette suchen. Er würde den Kopf schütteln wie jemand, der nicht genau versteht, was man ihm sagt.
    „Ich bin sicher, nicht zu irren", sagte Warasin. „Ich kann Ihre Lage sehr gut verstehen. Ein wenig kenne ich den Geist, in dem Sie erzogen wurden. Ich glaube wenigstens, ihn jetzt besser zu kennen als früher. Ich möchte Ihnen helfen, diese Erziehung zu überwinden. Aber ich muß Ihnen die Illusionen nehmen, die Sie haben. Bauen Sie nicht darauf, in mir einen Mann vor sich zu sehen, der in einer Zwangslage steckt. Was ich in den letzten beiden Tagen getan oder nicht getan habe, geschah weniger in meinem Interesse. Es geschah in Ihrem Interesse. Aber das ändert nichts an Ihrer Zukunft. Die Rote Armee wird Sie wie jeden anderen Gefangenen behandeln und Ihnen die Möglichkeit geben, das Leben von vorn anzufangen. Das brauche ich Ihnen nicht besonders zu versichern. Das ist unser Prinzip gegenüber den Soldaten Ihrer Armee, die gekämpft und nicht gemordet

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