Die Stunde der toten Augen
dabei. Timm ist immer dabei. Er sieht auf die Uhr, und dann hebt er den Arm. Es geht schnell, denn es darf nicht sehr lange dauern, wenn sie davonkommen wollen. Bindig läuft neben Zado, als sie im Wald verschwinden, keuchend, mit geschwärzten Gesichtern, die Maschinenpistolen mit den halbleergeschossenen Magazinen in der Hand. Sie laufen nebeneinander, als hinter ihnen die Ladungen explodieren und die Stapel der Munition zerreißen. Es ist ein höllisches Konzert. Der Himmel ist für lange Sekunden taghell erleuchtet, bis diese Helle dem rötlichen Widerschein des Brandes weicht, der das letzte zerstört, was einmal ein Munitionslager war.
Sie laufen an Timm vorbei, der zurückbleibt, um die letzten anzuspornen.
Es gibt ein Lied, das sie zuweilen singen. Über die, die in Spanien waren als Legionäre. Timm, der sie an sich vorbeilaufen läßt, steht mit geschwärztem Gesicht, die Maschinenpistole in den schwarzen Händen, am Rande des Waldweges. Er steht halb gebückt, gleichsam sprungbereit, noch erhitzt von dem Überfall. „Vorwärts, Legionäre!" ruft er ihnen grinsend zu. Mit jenem Grinsen, das zugleich Anerkennung und eigene Befriedigung ist. Er ruft ihnen den Kehrreim des Liedes zu. Das tut er manchmal.
„Wir sind schon eine Legion...", sagt Bindig schwer atmend, als sie im Schritt weitergehen.
Es ist alles genau auf die Minute ausgerechnet wie immer. Ihre Chance liegt darin, genau auf die Minute am Startplatz zu sein. Sind sie das nicht, fliegt die Maschine heim. Dann haben sie die Verfolger auf der Fährte, die jetzt gerade erst aufbrechen.
„Eine Legion...", sagt Zado. Er wirft die Maschinenpistole über die Schulter. „Das sind wir. Wir sind eine verflucht höllische Legion. Eine, die aus der Nacht kommt und die Hölle zurückläßt, wo sie gewesen ist."
Sie fliegen nach Haselgarten zurück. Tage später sagt Bindig zum erstenmal zu Zado: „Da ist diese Frau in dem einsamen Gehöft hinter dem Dorf... eine eigenartige Frau..."
Sie sind leer. Sie sind ausgepumpt wie immer, wenn sie zurückkommen. Sie sind müde und trotzdem schlaflos. Wenn sie schlafen, finden sie keine Ruhe im Schlaf.
Sie spielen Karten und trinken. Schreiben Briefe nach Hause oder an die Bräute. Gehen zu den Weibern, die in der Gegend herumlungern, oder holen sie in die Quartiere.
„Eine eigenartige Frau?" wiederholt Zado schläfrig. „Sie kommt dir eigenartig vor, weil sie nicht für Schokolade mit uns schläft, nicht einmal mit Alf. Sie ist wirklich eine eigenartige Frau, aber eigentlich ist sie gar nicht so eigenartig, es kommt dir nur so vor..."
Er ist jetzt zwei Tage in dem Zimmer. Die Kopfwunde schmerzt noch, aber der Schmerz ist nicht mehr unerträglich. Die Wunde heilt. Er hat viel geschlafen. Es ist dunkel im Zimmer, aber es ist so, wie es sonst war. Nur Warasin ist dabei. Er sieht gut aus in der Uniform. Und er hat ein anderes Gesicht. Das ist nicht mehr der grinsende Schwachsinnige, der Taubstumme. Das ist auch nicht mehr der Mann, den Bindig zusammenschlug.
„Ich mache jetzt etwas zu essen", sagt Anna. Sie hat ein Tuch um die Schultern gelegt, als fröre sie. Sie zieht es über der Brust zusammen, als sie die Stube verläßt. Sie läßt die Männer allein. Sie weiß, daß sie Warasin und Bindig allein lassen kann.
Bindig hat einen klaren Kopf. Ein wenig benommen ist er noch immer, aber er kann denken. Er macht keine Fehler dabei. Er weiß, daß er in einiger Zeit wieder völlig gesund sein wird. Das gibt ihm einerseits Zuversicht, aber es gibt ihm auch eine Menge Rätsel auf. Er liegt auf dem Bett und raucht - Zigaretten von Warasin. Welche mit langen Pappmundstücken. Man darf sie nicht ganz aufrauchen, sonst verbrennt man sich die Zunge. Und man muß die
Pappmundstücke zusammendrücken.
Er sieht das Gesicht Warasins, dann sagt er langsam: „Ich bin in einer Situation, die aufs Haar der gleicht, in der Sie sich vor ganz kurzer Zeit befanden. Und Sie sind in der gleichen Situation, in der ich mich damals befand. Keine einfache Sache ..."
Es dauert eine Weile, bis Warasin etwas antwortet. Er zieht an seiner Zigarette und blickt dem Rauch nach, der für ein paar Sekunden im Halbdämmer zu sehen ist, das durch das Fenster hereinkommt.
„Es ist eine einfache Sache", sagt Warasin dann. „Sie ist sehr unkompliziert. Und ganz anders als die, von der Sie sprechen. Für Sie ist der Krieg zu Ende, bevor Ihre Armee endgültig besiegt ist. Sie haben Ihr Leben gerettet. Sie werden in der Gefangenschaft
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