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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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die Handkante an dem hölzernen Hals der Puppe blutig geschlagen hatte. Sie hatten sich Mühe gegeben, ihn zu erziehen, und es war Timm gewesen, der ihn erzogen hatte. Ein kritisch auf jede Bewegung achtender Klaus Timm, der am Rand der Matte gesessen hatte, ohne sich anmerken zu lassen, ob er mit den Leistungen des Soldaten Bindig zufrieden war oder nicht.
    Die Hand, die den Knecht flach auf den Hals traf, war von Timm geführt. Es war ein Schlag, der selbst dem Unteroffizier ein beifälliges Zungenschnalzen entlockt hätte. Der Knecht stieß einen gurgelnden Laut aus. Sein Kopf prallte zurück und schlug gegen das Fensterkreuz. Eine Scheibe ging in Trümmer. Er hatte die Pistole, die unter dem Kissen lag, schon in der Hand gehabt, aber der Griff war nicht sicher genug gewesen, und Bindig schlug ihm mit solcher Gewalt auf das Ellbogengelenk, daß seine Finger kraftlos wurden und die Waffe ihm entglitt. Er krümmte sich unter dem Schmerz, den Bindigs Knie ihm verursacht hatte, und rang nach Luft. Bindig erwischte die Pistole. Er behielt sie in der linken Hand, zog mit der rechten die eigene Waffe und trat dann in die Tür zurück. Dabei sagte er: „Das konntest du dir ersparen. Was ist los? Was machst du hier?"
    In diesem Augenblick warf er den ersten Blick auf die Pistole, die er in der linken Hand hielt, und sah die russischen Schriftzeichen auf dem Lauf und den eingestanzten Sowjetstern mit Hammer und Sichel. Wenn der Knecht in diesem Augenblick die Kraft gehabt hätte, sich auf ihn zu werfen, er hätte ihn mühelos überrumpeln können. Er hätte einen verwirrten, unvorbereiteten Gegner vor sich gehabt, denn Bindig starrte völlig verblüfft auf die Zeichen auf dem flachen Lauf der Pistole, und es dauerte lange, bis er sie sinken ließ und seine Reaktionsfähigkeit wiedergewonnen hatte. Doch der Knecht war nicht in der Lage, diese Sekunden auszunutzen. Er lehnte gekrümmt am Fenster und hatte die Augen geschlossen.
    „Was ist das?" fragte Bindig heiser. „Russe? Wie kommst du hierher?"
    Er bekam keine Antwort, und das stachelte seine Wut an. Er schrie so laut, daß er vor seiner eigenen Stimme erschrak: „Mach dein Maul auf, oder ich schieße dich so zusammen, daß dich nicht einmal deine Anna mehr erkennt!"
    Da sprach der Mann das erste Wort. Er öffnete die Augen. Sie waren vom Schmerz gezeichnet, aber sie blickten Bindig kalt und ohne Furcht an, Es waren die gleichen Augen wie die der Frau an dem zerstörten Lastwagen in der Nacht. Sie waren nur hell. Aber es war ebensoviel Haß in ihnen.
    „Es ist nicht meine Anna", sagte der Mann, „sie hat nichts mit mir zu tun."
    „Nichts weiter, als daß du bei ihr untergekrochen bist", sagte Bindig. Es fiel ihm schwer, das auszusprechen, und er hob deshalb seine Stimme und schrie: „Was bist du? Ein getürmter Ostarbeiter? Ein Russe? Was?"
    Der Mann richtete sich ein wenig auf. Bindig bewegte leicht die Pistole.
    „Na los", drängte er, „ich warte nicht mehr lange. Du brauchst nicht zu überlegen, wie du mich überraschen kannst. Wer bei Klaus Timm Nahkampfschule mitgemacht hat, der weiß, wie man sich wehrt. Was ist mit dir? Du hast eine verflucht harte Aussprache. Du bist Russe, ja?" Nach einer Weile sagte der Mann am Fenster: „Ich bin stolz darauf."
    „Meinetwegen!" fiel Bindig rasch ein. „Und was machst du hier? Bist du getürmt? Von wo?"
    Der Mann bewegte leicht den Kopf. Dabei sägte er:„Nichts von alledem trifft zu. Ich habe Ihnen nicht Rede und Antwort zu stehen, aber ich werde Sie aufklären, weil es um Anna geht. Oder weil es um sie gehen wird.
    Ich habe dieses Dorf mit erobert und wurde hier in diesem Gehöft verwundet. Anna verband mich und schleppte mich ins Haus. Als ich wieder zu mir kam, waren unsere Truppen zurückgegangen, und Ihre Kompanie zog in das Dorf ein. Das ist alles."
    Er sprach es in einem einwandfreien, ein wenig harten Deutsch. Sie blickten sich ein paar Sekunden lang schweigend an. Dann sagte der Russe: „Sie lieben Anna?"
    „Das geht Sie nichts an."
    „Es geht mich nichts an", erwiderte der Russe, „aber ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu erklären, daß mich mit Anna nichts weiter verbindet als der Umstand, daß sie mich bei sich aufnahm und pflegte und daß sie es später für richtig hielt, mich zu verbergen."
    „Sie sind Offizier?" fragte Bindig schnell. Er mußte irgendetwas fragen, der Russe verwirrte ihn.
    „Das geht Sie nichts an", war die Antwort.
    „Es geht mich nichts an", sagte Bindig, „aber es

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