Die Stunde der toten Augen
gibt Leute, denen werden Sie sagen müssen, wer Sie sind."
Der Russe versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm nicht, denn er hielt sich mühevoll aufrecht. Der Schmerz quälte ihn. „Ich verstehe Sie vollkommen", sagte er ruhig. „Ich habe das geahnt, als Sie zum erstenmmal dieses Haus betraten. Schießen Sie mich nieder, oder bringen Sie mich zu Ihrem Kommandeur. Es kommt auf das gleiche heraus. Tun Sie, was Ihre Vorschriften von Ihnen verlangen."
Eine Weile blieb es still. Bindig spürte, daß dieser Mann keine Gefahr mehr war. Aber da war ein anderer Gedanke, der aus seinen Worten entsprang und der Bindig unversehens vor eine Entscheidung stellte, der er nicht gewachsen war. Er lehnte sich an die Türfüllung und bemühte sich ängstlich, seine Unsicherheit zu verbergen. Er wußte mit einemmal, daß er an einem Kreuzweg stand, unfähig, sich zu entscheiden. Er blickte den Russen an, und es war ein haßerfüllter Blick. Seine Stimme klang brüchig, als er nach langer Zeit leise sagte: „Setzen Sie sich auf das Bett. Ich werde Ihnen nichts tun."
Der Russe lächelte, als er sagte: „Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen, wenn Sie mich zu Ihrem Kommandeur bringen."
Da ließ Bindig die Pistole sinken und sagte in einem Ton, der das geringschätzige Lächeln vom Gesicht des Russen fortwischte: „Sie sind klug genug, um zu wissen, daß ich das nicht tun werde."
„Ich verstehe nicht...", sagte der Russe.
„Doch, doch. Sie verstehen das sehr gut", beharrte Bindig. „Sie sind ein Mensch mit Verstand. Und Sie wissen, daß ich Sie nicht zu meinem Kommandeur bringen kann, weil dieser Kommandeur Sie als den taubstummen Idioten Jakob kennt, der bei Anna lebt. Was geschähe mit einer Russin, die hinter der Front der Roten Armee einen deutschen Offizier verbirgt?"
„Ich kenne keinen solchen Fall", sagte der Russe leise, „aber ich verstehe. Ihr Kommandeur wird uns beide an die Wand stellen, Anna und mich, wenn Sie ihm Ihre Entdeckung melden. Ich verstehe vollkommen."
Bindig spürte den Hohn in den Worten. Aber er war ohne Energie. Er wartete darauf, daß irgendetwas geschah. Aber es geschah nichts. Der Russe sah ihn ruhig an und machte keine Bewegung dabei.
In Bindigs Kopf begann es zu dröhnen. Es war kein Schmerz. Es war eine summende Leere, die ihn aushöhlte. Er mußte sich anstrengen, die Pistole nicht fallen zu lassen. Der Russe verschwamm vor seinen Augen, das ganze Zimmer begann sich im Kreis zu drehen. Bindig hielt sich am Türpfosten fest und atmete kurz und schnell. Er wollte irgendetwas sagen, aber er brachte nichts Zusammenhängendes heraus. Nur ein paar Worte. „Wenn Sie... ein Soldat... und Anna... es ist... so..."
Da war unten im Haus das Schlagen der Tür und die Stimme, die ihn zwang, sich noch einmal zusammenzuraffen. Die Stimme gehörte Anna. Sie rief: „Du, ich habe ein paar Kartoffeln gefunden! Komm, hilf mir, sie zu tragen!"
Bindig torkelte aus dem Zimmer.
Als er au£ der Treppe stand, stieß die Frau einen leisen Schrei aus. Sie begriff erst, was geschehen war, als er ihr die beiden Pistolen hinhielt. Aber er war nicht mehr imstande, etwas zu sagen. Sie fing ihn auf, während der Russe sich langsam die Treppe hinabtastete, eine Hand gegen den Unterleib gepreßt. Die Frau sah ihm mit weit geöffneten Augen entgegen und fragte zitternd: „Er... was ist... hast du... Mein Gott!"
Der Russe half ihr, Bindig auf das Bett zu legen. Er half ihr, ihn auszukleiden und ihm den kalten Schweiß von der Haut zu reiben. Die Bewegungen fielen ihm schwer, aber er half so lange, bis Bindig unter dem Deckbett lag und Anna von irgendwoher ein feuchtes Handtuch geholt hatte, das sie ihm auf die Stirn legte.
„Mein Gott", murmelte sie dabei, „Jesus, mein Gott..."
Aber der Russe sagte nur leise: „Es wird vorbeigehen. Es ist ein Fieber ... er wird es überstehen ..."
Anna:
Allein mit dem Schlag meines Herzens
Immer wenn es Frühling wurde, hockte das Mädchen am Abend bei den Weiden am Fluß und sang vor sich hin. Sie war jung, aber sie war schon kein Kind mehr, und die Burschen sahen ihr nach, wenn sie über die Dorfstraße ging.
Sie war sechzehn, als sie zum letztenmal bei den Weiden saß. Sie trug den bunten, handgewebten Rock, der knapp bis über die Knie reichte, und das Haar fiel, zu zwei schweren Zöpfen geflochten, seidenschwarz über die weiße Bluse. Sie hockte bei den Weiden, als die Sonne unterging, und summte, und die Burschen flüsterten einander zu, daß sie es mit dem Kopf
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