Die Stunde der Wahrheit
Morgen hatte Arakasi einen Bericht erhalten, nach dem der Junge die ohnehin wackligen Finanzen der Kehotara bis kurz vor den Bankrott getrieben hatte. Seinem Vater Mekasi würde es sehr peinlich sein, wenn er Jingus Gnade zur Rettung seiner Ehre benötigte.
»Um zwischen Euren Beinen liegen zu können, würde dieser Junge das Vermögen seines Vaters verschwenden«, erklärte Nacoya kopfschüttelnd. »Man könnte ihn beinahe ein bißchen bedauern. Der Genuß von Misa an Eurer Stelle zeitigte den gewünschten Effekt und hat seinen Hunger nach Euch nur noch gesteigert. Dieser Narr hat sich leidenschaftlich in Euch verliebt.«
Der Kommentar der Ersten Beraterin ging beinahe in der Fanfare der Hörner unter. Vielle-Spieler steigerten sich stürmisch in das Finale aus Arpeggios, während Bruli und seine Begleiter die Stufen zum Herrenhaus emporstiegen und den Garten betraten. Die Tänzer und Tänzerinnen wirbelten geschlossen herum und ließen sich in einem Halbkreis aus Verbeugungen vor Mara niederfallen, als Bruli erschien. Sem schwarzes Haar war dieses Mal zu Löckchen gewellt, und an seinen Armen hingen schwere Armreifen aus ziselierter Emaille. Als er vor sie trat, fiel sein prahlerisches Gehabe jedoch in sich zusammen. Er hatte erwartet, sie in einem luftigen Gewand zu sehen, doch sie trug eine bis unter die Knie reichende offizielle weiße Robe mit langen Ärmeln.
Obwohl er spürte, daß ein Problem in der Luft lag, führte er seine Verbeugung voller Anmut aus. »Mylady?« fragte er, während er seine Gefolgschaft beiseite winkte.
Mara bedeutete ihren Dienerinnen, in angemessener Entfernung zu warten. Sie runzelte ein wenig die Stirn, als würde sie gegen das Gefühl einer großen Enttäuschung ankämpfen, die zuviel war, als daß sie sie verbergen könnte. »Bruli, ich bin dabei, einiges zu begreifen.« Sie senkte die Augen. »Ich bin allein … und Ihr seid ein sehr gutaussehender Mann. Ich … Ich habe schlecht gehandelt.« Sie beendete hastig den Satz. »Ich habe meine Begierde über meinen Verstand herrschen lassen, und jetzt muß ich erkennen, daß Ihr mich für eine weitere dumme Frau haltet, die Ihr auf die Liste Eurer Eroberungen setzen könnt.«
»Aber nein!« unterbrach Bruli sie sofort betroffen. »Für mich seid Ihr die vorbildlichste aller Frauen, Mara.« Seine Stimme senkte sich ehrfurchtsvoll. »Mehr noch, Mara, ich liebe Euch. Ich würde niemals bei der Frau, die ich heiraten will, an Eroberung denken.«
Seine Aufrichtigkeit ließ Mara einen Augenblick schwanken, aber nicht viel länger. Trotz seines guten Aussehens war Bruli nur ein weiteres Exemplar aus der Gruppe eitler junger Männer, die mit nur wenig Klugheit und Weisheit gesegnet waren.
Mara wich einen Schritt zurück, als er die Hand nach ihr ausstreckte. »Ich würde Euch gerne glauben, Bruli, doch Euer eigenes Verhalten straft Eure hübschen Worte Lügen. Erst vor zwei Tagen habt Ihr in meiner Zofe einen leichten Ersatz für…« Wie leicht die Lüge über die Lippen kommt, dachte sie. »Ich war bereit, mich Euch hinzugeben, lieblicher Bruli. Doch ich muß entdecken, daß Ihr nicht mehr als ein weiterer Abenteurer des Herzens seid und ich nur eine arme, bescheidene Witwe.«
Bruli ließ sich sofort auf ein Knie nieder. Es war die Geste eines Dieners, und sie bestürzte in ihrer Aufrichtigkeit. Er begann ernsthaft seine Liebe zu bekunden, doch Mara wandte sich brüsk ab. »Ich kann das nicht anhören. Es bricht mir das Herz.« Sie tat so, als wäre sie zu sehr verletzt, um dies ertragen zu können, und flüchtete in den Garten.
Als das Trippeln ihrer Sandalen im Haus verklang, erhob sich Bruli langsam wieder. Er spürte, wie Nacoya seinen Ellbogen berührte, und gestikulierte verlegen und verwirrt. »Ehrwürdige Mutter, wenn sie mich nicht anhören will, wie kann ich ihr dann meine Liebe beweisen?«
Nacoya gluckste verständnisvoll und tätschelte den Arm des Mannes, dann führte sie ihn geschickt am Orchester und der Tanzgruppe vorbei bis zu seiner herrlich eingerichteten Sänfte. »Frauen haben nicht viel Kraft, Bruli. Ihr müßt sanft und geduldig sein. Ich denke, das eine oder andere kleine Geschenk, zusammen mit einem Brief oder noch besser einem Gedicht, wird ihr Herz umstimmen. Vielleicht eines an jedem Tag, bis sie Euch zurückruft.« Sie berührte den Rand der Sänfte mit bewundernden Händen. »Ihr wißt, Ihr hattet sie bereits für Euch gewonnen. Hättet Ihr Euch nur zurückhalten und die Zofe in Ruhe lassen können,
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