Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
Bäumen wand sich eine Kieseinfahrt, deren Ziel ich nicht sehen konnte.
Ich musste es wagen.
Dass ich schon so viele schreckliche Dinge durchgestanden hatte, war ein Vorteil, wenn es darum ging, Risiken einzugehen. Was konnte schon passieren? Man könnte mich wegen unbefugten Betretens ins Gefängnis stecken. Konnte kaum schlimmer sein als eine geschlossene psychiatrische Station. Wer auch immer hinter der Grundstücksmauer leben mochte, könnte mich gefangen halten, um irgendwelche Experimente mit mir durchzuführen. Auch nicht viel anders als in der Psychiatrie. Ich zögerte. Mein Blinker strahlte so hell wie ein Leuchtfeuer für die Sicherheitsposten und Wachhunde, die in meiner Phantasie direkt hinter der Grundstücksmauer auf mich lauerten.
Ich brauchte Antworten.
Ich musste wissen, ob Michael mir die Wahrheit gesagt hatte – und was er noch vor mir verbarg.
Entschlossen fuhr ich durch das Tor.
20. KAPITEL
M it einem zweiten Blick auf die Visitenkarte vergewisserte ich mich, dass ich die korrekte Adresse eingegeben hatte und mich am richtigen Ort befand. Ein im griechischen Stil erbautes Plantagenhaus erhob sich vor meinen Augen – groß, weitläufig, aus roten Ziegeln, mit hohen, weißen Säulen zu beiden Seiten des Eingangsportals. Keine bewaffneten Wachmänner, keine Hunde, nichts von dem, was ich erwartet hatte. Die Einfahrt führte am Haus vorbei und endete auf einem kleinen baumbestandenen Parkplatz, wo ich den Wagen abstellte.
Falls mich irgendjemand fragen sollte, was ich hier wollte, würde ich einfach sagen, ich hätte mich verfahren, in der Hoffnung, dass niemand einen Blick in den Wagen werfen würde. Sich zu verfahren, wenn man ein hochmodernes Navi hatte, war ziemlich unwahrscheinlich. Ich beschloss, mir den Laden mal anzusehen – da ich doch so eine tolle Superspionin war und so weiter.
Ohne lange zu fackeln, schlüpfte ich aus dem Wagen und versteckte mich zwischen den Bäumen. Der Sonnenuntergang ließ den Horizont aufflammen – kitschig orange wie ein Wassereis. Im schwindenden Tageslicht waren Stallungen und andere Nebengebäude auszumachen, hinter denen sich ein dunkles Waldgebiet erstreckte.
Ich schlich näher.
Schweißperlen rannen mir den Rücken hinab, als ich auf Zehenspitzen an der Seitenmauer des Hauses entlanghuschte und mich bei jedem Fenster duckte. In der drückend schwülen Luft kostete es mich große Anstrengung, mich möglichst leise fortzubewegen, und ich war froh, dass ich mein Haar hochgesteckt hatte. An der Hausecke wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Die Blätter mochten sich vielleicht färben, aber es fühlte sich nicht an, als stünde der Herbst vor der Tür.
Die Rückseite des Anwesens erinnerte mich an die pompösen Achtzigerjahre-Serien, die ständig wiederholt wurden. Ein hell erleuchteter, schmaler, lang gezogener Pool wurde von Pflanzkübeln mit schlanken Koniferen gesäumt. Vier Säulen umgaben eine mit italienischen Kacheln geflieste, überdachte Terrasse. Hinter dem Haus befand sich eine weitere Terrasse, auf der winzige Tischchen mit passenden Stühlen sowie bequeme Gartensofas standen. Elektrische Fackelleuchten und weitere Koniferen in Tontöpfen vervollständigten das Bild. Es wirkte ganz und gar nicht wie eine Top-Secret-Zeitreise-Kommandozentrale.
Als ich plötzlich Stimmen hörte, zog ich mich hinter einer Mauer zurück. Am anderen Ende der überdachten Terrasse konnte ich zwei Gestalten ausmachen. Sie lehnten sich über die Brüstung, und ihre definitiv männlichen Stimmen waren deutlich zu hören.
Eine erkannte ich wieder.
Es war Michaels Stimme.
Ich schlich ein paar Schritte weiter, setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken an die Stützmauer. So hatte ich es wenigstens halbwegs bequem. So bequem wie man es mit Bruchsteinen im Rücken eben haben konnte.
»Und wie ist sie so?«, fragte die unbekannte Stimme.
»Unglaublich.« Michael seufzte. »Mehr als ich’s je für möglich gehalten hätte.«
Es blieb ein paar Sekunden lang still. »Was weiß sie?«
»So ziemlich alles. Nur nicht, warum ich sie brauche.«
»Wie hat sie’s aufgenommen?«
»Was glaubst du denn? Wie würdest du es denn aufnehmen?«
Ich erstarrte. Ich ahnte, von wem sie da redeten.
»Du musst es ihr erzählen.« Die unbekannte Stimme klang eindringlich.
»Das Timing ist nicht gut, Kaleb. Sie fängt gerade erst an, mir zu vertrauen.«
»Du musst sie einweihen, bevor etwas passiert.« Kalebs Stimme war tiefer und rauer als
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