Die Stunde der Zikaden
stärker. Er war genau in den verrückten Phantasien seiner Jugend angekommen. Mittendrin.
Versucht, einen zweiten Grappa zu trinken, griff Guerrini nach der Flasche, stellte sie wieder weg und ging auf die Dachterrasse hinaus. Er atmete tief ein, sah auf seine Uhr. Laura war schon seit beinahe zwei Stunden fort. Vielleicht sollte er zu Ferruccio gehen und nachsehen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass von Ferruccio eine Gefahr für sie ausging, von einem berühmten Dichter und Kämpfer gegen die Neofaschisten und gegen Umweltzerstörung. Er hatte einen schwarzen Hausangestellten. Was war daran so ungewöhnlich? Ferruccio hatte einem armen Kerl einen Job gegeben. Das passte zu ihm. Trotzdem war Guerrini beunruhigt. Warum, verdammt nochmal, waren sie nicht nach Griechenland oder Spanien geflogen?
Als der schmucke Maresciallo vom Parkplatz zu ihm heraufschritt, dachte Guerrini, dieses Haus hatte allmählich Ähnlichkeit mit einer Theaterbühne. Ein Auftritt folgte dem andern. Es fehlte nur der Vorhang.
«Ich dachte, Sie rücken ab, Maresciallo.»
Er war oben angekommen und stand vor Guerrini – Goldtressen am Kragen, aber ohne Mütze, nicht viel jünger als er selbst, mit melancholischen dunklen Augen, die ihn genau musterten.
«Wir sind gerade dabei, Commissario. Ich bin nur noch einmal zurückgekommen, weil ich mit Ihnen sprechen wollte. Tenente Gaspari hat es doch angekündigt, oder?»
«Nicht alles, was in diesem Land angekündigt wird, findet auch statt», erwiderte Guerrini.
Der Maresciallo lächelte nicht.
«Ich wollte Ihnen nur eine Frage stellen, Commissario. Ihr Dienstgrad ist höher als meiner, ihre Abteilung eine andere. Trotzdem wüsste ich gern, ob Sie in diese Geschichte verwickelt sind. Ermitteln Sie hier?»
Guerrini schüttelte den Kopf.
«Was machen Sie dann hier?»
«Ich versuche vergeblich den Leuten zu erklären, dass ich mich im Urlaub befinde, aber niemand scheint mir zu glauben.»
Der Maresciallo nickte, lächelte noch immer nicht. «Ich auch nicht, wenn Sie an meiner Meinung interessiert sein sollten. Wir wurden zurückgepfiffen, Commissario, und das schmeckt mir nicht. Ich habe eine geheime Information bekommen, dass hier im Resort ein verdeckter Ermittler eingesetzt wurde. Ich halte Sie für diesen Ermittler, Commissario. Falls unsere Aktion Ihre Arbeit gestört haben sollte, dann möchte ich mich dafür entschuldigen. Aber nachdem man den Toten, der am Monte Argentario aus dem Meer gefischt wurde, als Fahrer des weißen Lieferwagens identifiziert hat, hielt ich es für richtig, genauer nachzusehen, was hier los ist.»
Danke, dachte Guerrini. Das ist die Information, die mir gefehlt und die mir Tuttoverde vorenthalten hat. Sie haben also den Fahrer umgebracht und möglicherweise auch Orecchio, falls er nicht mit der Lieferung abgehauen ist.
«Es tut mir leid, dass Ihre Aktion abgebrochen wurde, Maresciallo. Ich hab es nicht getan, und ich kann zu der ganzen Angelegenheit nichts sagen. Das werden Sie verstehen.»
«Soll ich es verstehen? Was soll ich verstehen? Wenn es einen anderen Job gäbe, würde ich mich darum bewerben!»
«Diesen Impuls hatte ich auch schon einige Male.»
«Cazzo!»
«Sie sagen es.»
Der Maresciallo wandte sich um und ging von Guerrinis Bühne ab, ohne sich noch einmal umzusehen. In diesem Augenblick summte Guerrinis Handy. Als er nicht Laura, sondern die Stimme seines Vaters hörte, hatte er Mühe, halbwegs freundlich zu antworten.
«Es ist ein schlechter Zeitpunkt.»
«Wieso schlechter Zeitpunkt? Wir telefonieren so gut wie nie, also nimm dir gefälligst Zeit! Außerdem dauert es nicht lang. Ich wollte dir nur sagen, dass du die Finger von Colalto lassen sollst! Kapiert?»
«Warum?»
«Weil ich dich darum bitte!»
«Du bittest mich? Du hast mich noch nie um etwas gebeten. Es muss sich um eine verdammt ernste Angelegenheit handeln.»
Fernando Guerrini ging nicht auf seinen Sohn ein, er schwieg nur kurz und räusperte sich dann ausgiebig.
«Es war meine letzte Lieferung von Madonnen an Colalto. Bist du damit zufrieden?»
«Was haben deine Madonnen mit mir zu tun?»
«Red nicht so einen Blödsinn. Du weißt genau, was ich meine, Angelo. Also: Ich lasse die Geschäfte mit Colalto, und du lässt die Finger davon!»
«Auch ein Geschäft, was?»
«Natürlich. Das ganze Leben besteht aus Geschäften.»
«Und was ist, wenn er die Finger nicht von uns lässt?»
«Wieso, was macht er denn?»
«Er stellt einen unbeleuchteten Pflug hinter
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