Die Stunde der Zikaden
eine Kurve, auf dass wir hineindonnern, er verwüstet unser Haus, er lässt Farbe über meinen Wagen schütten.»
«Das kann auch jemand anderes getan haben! Ich habe dich davor gewarnt, nach Portotrusco zu fahren!»
«Hast du nicht!»
«Hab ich doch! Ich habe gesagt, dass um diese Jahreszeit Sizilien besser wäre!»
«Ah, und das soll eine Warnung gewesen sein?»
«Natürlich! Aber du verstehst ja so was nicht, obwohl du Commissario bist. Hast du mich jetzt verstanden?»
«Ja, ich habe dich verstanden.»
«Wirst du es lassen?»
«Ich weiß es noch nicht. Manche Dinge schreien nach einer Klärung.»
«Wer schreit?»
«Ich zum Beispiel! Weißt du, dass man die offiziellen Ermittlungen eingestellt hat, obwohl der Fahrer des weißen Lieferwagens tot im Meer gefunden wurde?»
«Was hast du mit diesem Fahrer zu tun? Du machst Urlaub! Hast du das vergessen? Überlass diese Dinge deinen Kollegen, verdammt nochmal! Wieso nimmst du eigentlich Laura mit ans Meer, wenn du dann mit verdammten Ermittlungen gegen Freunde der Familie anfängst? Klappt es nicht mit euch beiden? Kriegst du keinen hoch?»
Guerrini versuchte ruhig zu atmen und nicht spontan zu reagieren. Überhaupt nicht zu reagieren. Er hatte es nicht gehört. Fernando verlor immer jedes Maß, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand. Offensichtlich stand er mit dem Rücken zur Wand! Nicht reagieren!
«Was ist? Bist du noch da? Falls ich dir zu nahe getreten sein sollte, dann tut es mir leid. Aber es ist doch wahr …»
«Nein!», sagte Guerrini ruhig.
«Bene.»
«Dann bis zum nächsten Mal.»
Guerrini drückte auf den Knopf, legte das kleine Telefon auf den Küchentisch und sah sich irritiert um – er hatte gar nicht bemerkt, dass er in die Küche gegangen war und Empfang hatte. Er hätte gern gegen etwas getreten, aber es gab nichts Geeignetes. Also fegte er eine kitschige Seneser Keramikvase von der Anrichte und sah zu, wie sie auf den Fliesen zerschellte. Lieber allerdings hätte er eine der Madonnenkopien von della Robbia in Scherben fallen sehen. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Er dachte, dass Laura genau im passenden Moment zurückgekommen war, um Zeugin seiner Unbeherrschtheit zu werden. Doch eine andere Frau stand in der schmalen Tür zur Terrasse.
«Gefiel dir die Vase nicht?», fragte Domenica di Colalto.
Sie trug einen langen dunkelblauen Leinenmantel, das graue Haar fiel offen über ihre Schultern. Die Hände hatte sie in den Manteltaschen vergraben, und sie war sehr blass. Der knallrote Lippenstift verlieh ihr ein unwirklich maskenhaftes Aussehen. All das nahm Guerrini in Bruchteilen von Sekunden wahr. Auch, dass Domenica mit einer eleganten Geste eine Pistole aus ihrer Manteltasche zog.
«Setz dich und leg die Hände flach auf den Tisch.» Sie sagte es in ruhigem, verächtlichem Tonfall. «Falls es dich interessiert: Ich habe einen Waffenschein, Commissario Guerrini.»
Sie dehnte seinen Namen und Rang auf groteske Weise.
Guerrini blieb nichts anderes übrig, als zu tun, was sie von ihm verlangte. Also setzte er sich und sah sie an.
«Und jetzt?»
«Jetzt unterhalten wir uns.»
«Geht das nicht ohne Waffe?»
«Theoretisch. Aber ich bin sicher, dass du mir genauer zuhörst, wenn ich meine Waffe auf dich richte.»
«Hast du Angst, dass ich dir wieder weglaufe?»
«Ach, du hast es nicht vergessen? Dann muss dich dieses kleine Erlebnis sehr beeindruckt haben, du Feigling.» Domenica verzog den Mund, und Guerrini sah, dass ihre Zähne gelblich waren und der Lippenstift in die feinen Fältchen um ihren Mund gekrochen war. Auch die schwarze Schminke um ihre Augen war ein bisschen verlaufen, und wieder fühlte Guerrini sich an eine Vampirin erinnert.
Domenica blieb stehen, lehnte sich an den Herd und stützte die Hand, in der sie die Pistole hielt, mit der andern. Es wirkte ziemlich professionell, und Guerrini stellte sich vor, wie sie in einem der leeren Zimmer ihres Landsitzes Schießübungen machte. Vielleicht sogar oben in den Speicherräumen, mit einer der alten kopflosen Uniformen als Dummy. Das undefinierbare Zahnschmerzziehen war wieder da. Ein paar Minuten lang hatte er es nicht wahrgenommen, doch jetzt pochte es geradezu.
«Was, zum Teufel, willst du von mir, Domenica?»
«Die Fragen stelle ich, Guerrini, und du gibst die Antworten! Was willst du von mir und meinem Bruder? Wieso kommst du hierher und schnüffelst herum wie ein Trüffelschwein?»
Nicht schlecht, dachte Guerrini. Langsam wird es doch noch so etwas wie
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