Die Stunde der Zikaden
sie sich den Beginn ihres Urlaubs nicht vorgestellt. Nicht als Konfrontation mit ihrem Beruf, ihrem bisherigen Dasein. Sie hatte sich einen Ausstieg erhofft, so etwas wie eine Flugübung für ein ganz anderes Leben. Noch an diesem Morgen war sie ein bisschen geflogen, dann war die harte Landung gekommen.
Wieder hatte sie Lust zu rennen, weit weg von dieser unklaren Geschichte. Achten Sie auf den Wiedehopf. Was für eine seltsame Empfehlung. Vielleicht war es doch besser, nach Rom zu fahren, wie Angelo vorgeschlagen hatte. Sie kletterte auf die Granitbrocken an der Mole und warf einen Blick zurück.
Der Mann mit dem langen Mantel lief nicht mehr am Ufer entlang, sondern am Rand der Macchia. Er schien keinen Wert auf eine Begegnung mit dem gesprächigen Strandwanderer zu legen. Laura konnte jetzt erkennen, dass er Afrikaner war, ein Schwarzer mit buntem Umhang und einer großen Tasche über der Schulter. Einer der Händler vermutlich, die überall in Italien unterwegs waren, mit Handtaschen, Sonnenbrillen, Uhren, Teppichen, Modeschmuck. Er winkte ihr zu, rief etwas. Laura winkte zurück, kletterte aber weiter, überquerte wieder den wild strömenden Bach und blieb erst stehen, als sie den Strand erreicht hatte, der zu ihrem Ferienhaus gehörte. Die Sonne war inzwischen durch die Wolken gebrochen. Das Meer blendete, und die letzten Nachzügler des Sturmtiefs zogen wie zerfledderte Federn über den Himmel. Laura ließ sich in den Sand fallen und kreuzte die Beine, nahm eine Art Meditationshaltung ein. Inzwischen war der Strand wieder völlig glatt und unberührt. Die Begegnung mit dem Toten erschien ihr so unwirklich wie die Insel Montecristo, von der nur noch die Berggipfel zu sehen waren. Fliegende Berggipfel über einem wogenden dunkelgrünen Meer.
Es dauerte nur wenige Minuten, und der afrikanische Händler hatte sie eingeholt. Er trug keine Sonnenbrille, war sehr schwarz, sehr schlank. Er lächelte nicht und sagte auch nichts. Stattdessen setzte er sich ein paar Meter von Laura entfernt, kreuzte ebenfalls seine Beine und schaute zu der fernen Insel.
So saßen sie schweigend.
Es war ganz natürlich.
Nicht bedrohlich. Anders als die Begegnung mit dem blonden Strandwanderer.
Irgendwann wandte Laura den Kopf und sah zu dem stillen Händler hinüber. Diesmal lächelte er, rosa Schimmer zwischen seinen dunklen Lippen, ein kurzes Blitzen weißer Zähne. Dann war er wieder ernst, öffnete seinen tragbaren Koffer und schob ihn ein Stück zu Laura hinüber. Wie sie vermutet hatte, war der Koffer voller Sonnenbrillen, Schmuck und Uhren. Noch immer sagte er nichts, pries seine Ware nicht an.
«Was machst du im Winter?», fragte sie.
Er hob erstaunt die Augenbrauen und lächelte dann wieder auf diese unerwartet sanfte Weise.
«Weiter nach Süden, vielleicht. Oder Venedig. Das ist immer gut.»
Sein Italienisch war nicht schlecht. Venedig. Sie erinnerte sich an die zahllosen Straßenhändler mit ihren immer gleichen Handtaschen, die in wilden Fluchten davonstoben, sobald die Polizei auftauchte. Die meisten waren Illegale. Der hier wahrscheinlich auch. Ewiger Wanderer an den Rändern Europas.
Sie zog den Koffer zu sich heran, nahm eine Sonnenbrille mit rotem Gestell heraus und Creolen, die mit goldenen Sternen besetzt waren. Sie fragte nach dem Preis.
«Dreißig Euro.»
«Fünfundzwanzig.»
«Achtundzwanzig.»
«Ach, lass es. Ich zahle dreißig.»
Er zuckte die Achseln und betrachtete seine hellen Handflächen.
«Warte hier. Ich muss das Geld erst holen.»
Er nickte und begann seine Waren neu zu arrangieren. Laura schlug den schmalen sandigen Pfad zum Haus ein und fragte sich zum ersten Mal, wie der Streit mit Angelo weitergehen würde. Vielleicht packte er bereits. Sie war auf alles gefasst, denn sie hatten noch nie einen ernsthaften Konflikt durchgestanden. Immerhin hatte er genau wie sie die absurde Komik der Situation empfunden, das stimmte sie zuversichtlich. Trotzdem zögerte sie, als sie die Terrasse erreichte. Wenigstens war er noch nicht abgereist, denn laute Musik drang in den Garten. Beethoven, soweit Laura hören konnte. Leise öffnete sie die Terrassentür und trat ins Haus.
Commissario Guerrini lag mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen auf dem gelben Sofa. Gewaltig hallte die Symphonie in dem hohen Raum, Beethovens Fünfte. Auf Zehenspitzen schlich Laura durch den Salon zu der antiken Kommode neben der Treppe. Ihre Brieftasche lag in der obersten Schublade. Guerrini rührte sich nicht,
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