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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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dass sie allmählich immer schwerer wurde und tiefer in den Sand sank. Nein, das war keine gute Idee. Diese Übung erinnerte sie wieder an den Toten, der ja auch allmählich versunken war. Niemals hatte das Meer ihn wieder mitgenommen. Er war viel zu schwer gewesen. Daraus folgte, dass jemand ihn weggeschleppt hatte. Außerdem folgte daraus, dass jemand sie und Angelo beobachtet haben könnte. Jemand, der kein Interesse daran hatte, dass der Tote gefunden wurde.
    Jäh setzte Laura sich auf und schaute sich nach dem afrikanischen Händler um. Er war noch da, eine winzige dunkle Figur am Rand der Brandung.
    Ich höre ab sofort auf zu denken! Ich schaue einfach aufs Meer hinaus und zur Insel Montecristo, ich denke an Jules Verne und seinen Grafen, an Angelo, daran, wie wir uns gestern geliebt haben, an die Rosmarinbüsche vor dem Haus, an die wilden Katzen …
    Die Insel Montecristo hatte sich aufgelöst, einzig eine Nebelbank war von ihr zurückgeblieben, und als Laura den Kopf wandte, war auch der schwarze Händler verschwunden.

 
    ALS DER FIAT die Steigung nicht mehr schaffte, wurde Ernesto Orecchio von einer neuen Panikattacke überrollt. Sie war heftiger als die vorangegangenen, deshalb schaltete er den Motor aus, schloss die Augen und hoffte, dass Herzrasen, Schweißausbrüche und Schwindel vorübergehen würden wie der Sturm. Er hätte die Angst nicht beschreiben können. Sie war zu groß, breitete sich rund um ihn aus, kroch am Wagen vorbei zwischen die Bäume und den steilen Hohlweg hinauf. Es kam ihm vor, als wären seine Muskeln erstarrt. Vorsichtig bewegte er seinen rechten Arm, um zu sehen, ob er noch funktionierte. Er spreizte die Finger seiner rechten Hand, starrte sie an, ohne sie wirklich zu sehen. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die Angst gerichtet, und immerzu liefen seine Gedanken im Kreis, wie verrückt: Ich habe nichts Falsches gemacht! Der Fahrer hat gesagt, dass ich die Ladung in Sicherheit bringen muss. Das habe ich gemacht!
    Es beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil: Je länger er dasaß, desto lauter wurden andere Gedanken, die er bisher nicht hatte denken wollen. Gefährlich, dachte er. Ich bin in eine gefährliche Situation geraten, und ich weiß nicht mal, warum. Und wie gefährlich sie ist.
    Seit Monaten machte er etwas, ohne zu wissen, was es war. Er befand sich in der Hand von Unbekannten, die ihn verdammt gut für ein paar durchwachte Nächte bezahlten. Vielleicht hatte er sich mit irgendeiner Mafia eingelassen, der Camorra, der ’Ndrangheta. Jedenfalls war in diesen Paketen etwas, das nicht gefunden werden durfte. Es konnte alles Mögliche sein. Kokain zum Beispiel. War Kokain schwer? Er hatte keine Ahnung.
    Ein Windstoß fuhr durch die Kronen der Esskastanienbäume, Blätter rieselten wie dichtes gelbes Schneetreiben. Irgendwo zu seiner Linken fiel mit dumpfem Schlag ein Ast zu Boden. Noch immer saß Orecchio starr hinter dem Steuer seines Wagens. Nicht mal genügend Benzin hatte er! Alles war außer Kontrolle! Passte ganz gut zu seinem Leben. Noch nie hatte er wirklich Kontrolle über irgendwas gehabt. Immer schon war das Leben ihm vorgekommen wie das Erdbeben im Friaul, das er als Kind erlebt hatte. In regelmäßigen Abständen krachte alles um ihn herum zusammen: die Jobs, die Beziehungen, manchmal auch seine Gesundheit. Nur seine Mutter blieb ihm erhalten. Dabei wäre er die wirklich gern los. Aber es ging ja nicht. Er war der einzige Sohn und sie Witwe. Wieder wurde er von einer Angstwelle überrollt, bekam kaum noch Luft.
    Ich muss hier raus! Ich kann hier nicht sitzen bleiben!
    Als er die Fahrertür aufstieß, fürchtete er, dass seine Beine ihn nicht tragen würden. Vorsichtig setzte er erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Boden und zog sich an der Wagentür hoch. Die Muskeln fühlten sich an wie verknotet. Was war nur los mit ihm? Er war doch sonst kein Feigling. Wärter eines Reichenghettos, mit Gewehr! Es half nichts. Orecchio wusste, dass er in etwas hineingeraten war, das größer war als er selbst und dieses lächerliche Gewehr. Mit geballter Faust schlug er auf das Autodach. Es tat weh, aber der Schmerz war gut, löste seine Erstarrung ein bisschen. Er sah sich um. Sonnenstrahlen drangen durch die Äste. Wie schwerer Regen fielen hier und da Eicheln und Esskastanien, Häher kreischten. Es roch nach feuchtem Laub und Pilzen.
    Ganz allmählich ebbte die Angst in seinem Innern ab, blieb aber im Nacken und den Schultern sitzen. Weiter würde er nicht kommen,

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