Die Stunde der Zikaden
hatten. Zum Glück traf er Domenica nur noch ganz selten, weil sie in irgendwelche Schulen ins Ausland geschickt wurde.
«Es geht ihr gut. Sie ist … na ja, sie ist eben Domenica. Immer ein bisschen anders als andere. Du kennst sie ja.»
«Nein.» Guerrini schüttelte den Kopf. «Ich kenne sie nicht. Ich erinnere mich kaum an sie.»
«Ah, du wirst dich sofort erinnern, wenn du sie wiedersiehst. Sie ist Expertin für etruskische Kunst geworden.»
Er will, dass ich weiterfrage, nach Karriere, Mann, Kindern. Aber ich frage nicht. Vielleicht sollten wir nicht zu diesem Essen gehen. Laura und ich haben nichts mit diesen Leuten zu tun.
«Interessant», sagte er laut. «Wir kommen dann morgen Abend.»
«Schön, den Weg kennst du ja noch. Grüß die Meeresforscherin von mir.»
Guerrini nickte, brachte es nicht fertig, einen Gruß an Colaltos Schwester auszusprechen.
«Na, dann. Bis morgen.» Der Conte rutschte von der Mauer, zog seine zerknautschte hellblaue Hose hoch, hob die Hand und wandte sich zur Treppe.
«Ich schicke den Glaser! Er kommt noch heute Vormittag. Fahrt nicht weg!», rief er über die Schulter zurück.
«Ja, danke. Und danke für die Einladung.» Guerrini sah Colalto nach, wie er über den Rasen davonging und zwischen den hängenden Zweigen der Tamarisken verschwand. Dann erst machte er sich auf den Weg in die Küche, um Tee zu kochen.
«Er weiß was, nicht wahr?» Laura streckte den Kopf aus der Badezimmertür. Guerrini zuckte die Achseln.
«Ich finde es spannend, zum Abendessen auf seinen Landsitz eingeladen zu werden.»
«Du warst nicht als Kind dort.»
Laura ging an ihm vorbei in die Küche, hängte Teebeutel in große Tassen und drehte sich zu ihm um.
«Ich war nicht als Kind dort und du bist kein Kind mehr. Manchmal ist es ganz heilsam, an solche Orte zurückzukehren. Vor allem an solche, die mit unangenehmen Erinnerungen verbunden sind.»
«Möglicherweise», erwiderte Guerrini leise. «Ich befürchte nur, dass wir da immer tiefer in etwas hineingezogen werden, was uns über den Kopf wachsen könnte.» Kurz überlegte er, ob er Laura von der Verbindung seines Vaters mit Colalto und der Verschiffung über Neapel erzählen sollte, aber er ließ es bleiben und entzündete stattdessen die Gasflamme unter dem Wasserkessel.
Sie warteten auf den Glaser. Laura fegte die Terrasse im ersten Stock und schaufelte Piniennadeln und Zapfen in einen Eimer. Danach klappte sie einen Liegestuhl auf, legte sich hinein und schaute in die Baumkrone hinauf. Es war keine perfekte Krone, eher ein Schirm, dessen Gestänge geknickt worden war. Irgendwie ähnelte der Baum verunglückten Regenschirmen, die bei stürmischem Wetter am Straßenrand zurückgelassen werden. Laura mochte den Baum, sie fühlte sich ihm verwandt. Sie überlegte kurz, ob sie die Nachrichten auf ihrem Handy abrufen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Alle Verpflichtungen ihres normalen Lebens lagen derzeit in den Händen anderer. Ihre Kinder, ihr Vater, ihre Arbeit – es war für alle gesorgt, alles geregelt. Sie hatte sich ausgeklinkt.
Federwolken wanderten über den Himmel, dazwischen schien die Sonne. Das Wort «ausgeklinkt» hallte in Laura nach. Es bedeutete so etwas wie die Verbindung lösen. Den freien Fall, das Wegfliegen, Wegschwimmen, Weglaufen.
Wohin flog sie? Flog sie überhaupt? Dies war der vierte Tag mit Angelo, seltsamer Wechsel zwischen Nähe und Ferne. Ein bisschen beunruhigend, aber sehr lebendig. Manchmal tat es weh, wie Lebendigsein eben. Die merkwürdigen Vorkommnisse um sie herum passten durchaus dazu.
Aus den Tiefen des Hauses erklang eine dunkle Frauenstimme, die schwermütige sizilianische Lieder sang. Laura liebte diese Musik. Sie schloss die Augen und wartete. Auf nichts Bestimmtes. Ausgeklinkt.
Nachdem Guerrini die CD mit sizilianischen Liedern aufgelegt hatte, wiederholte er leise das Gedicht von Petronius, das er für Laura ausgesucht hatte. Er konnte es noch immer nicht auswendig, las es zwei Mal, legte das Buch wieder weg, stand auf und lief – die Verse vor sich hin murmelnd – auf und ab. Als er das Buch wieder zur Hand nahm, blieb er an einem zweiten Gedicht des Römers hängen.
Träume, welche den Geist mit huschenden Schatten umspielen,
Senden die Götter uns nicht aus Tempel-Tiefen, noch fielen
Sie uns von den Gestirnen – wir zeugen sie selbst aus der Leere.
Wenn dumpfschlummernd der Leib ruht, so schwebt der Geist ohne Schwere.
Dann vollziehn sich die Werke des Tages,
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