Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
Vom Netzwerk:
zu schauen.
    «Ich hoffe, ich habe euch nicht bei irgendwas gestört. Das würde mir außerordentlich leidtun.»
    Seine Lider hingen wie immer halb über seinen Augäpfeln, und ein kaum wahrnehmbares spöttisches Lächeln lag um seinen Mund. Guerrini hätte ihn am liebsten mit einem Kinnhaken von der Mauer in den Garten befördert, verschränkte stattdessen aber die Arme vor der Brust und fragte gereizt: «Was ist los? Wieso kommst du so früh? Ist irgendwas passiert?»
    Colalto musterte Guerrinis nackten Oberkörper.
    «Krafttraining, was?»
    Noch so ein Satz, und ich schmeiß ihn wirklich runter! Guerrini ballte eine Faust, öffnete sie wieder und betrachtete seine Handfläche.
    «Also, was ist los?»
    «Fabrizio hat mich angerufen und gesagt, ich sollte besser mal meine Häuser überprüfen, weil gestern die Pforte ein paar Stunden lang unbewacht war. Einer der Wärter ist einfach abgehauen. Komische Geschichte. Deshalb bin ich hier. Alles in Ordnung bei euch?»
    «Jaja. Das heißt: nicht ganz. Der Wind hat die untere Terrassentür zugeschlagen, dabei ist eine der Scheiben zu Bruch gegangen. Könntest du einen Glaser besorgen? Ich komme natürlich für den Schaden auf.»
    «Ah, der Wind.» Colalto klappte langsam seine schweren Lider zu und ebenso langsam wieder auf. «Ich werde doch dem Sohn meines Geschäftsfreundes keine Rechnung für eine zerbrochene Scheibe stellen. Der Wind hier ist tückisch. Dauernd zerbrechen Scheiben. Oder sie werden eingeschlagen, weil Drogensüchtige oder Zigeuner auf der Suche nach Geld sind. Mach dir darüber keine Gedanken. Wie geht es der Meeresforscherin?» Colaltos Stimme klang weich, beinahe wie das Schnurren einer Katze.
    Er weiß es, dachte Guerrini. Vielleicht war er es sogar selbst, oder er hat einen seiner vielen Hausangestellten geschickt.
    «Es geht ihr gut.»
    «Das ist schön. Zeig ihr den Parco Naturale della Maremma .»
    «Den kennt sie schon.»
    «War ja nur ein Vorschlag. Ich möchte euch übrigens zum Abendessen einladen. Passt es euch morgen? Halb acht? Meine Schwester wird auch da sein. Du erinnerst dich doch an meine Schwester Domenica, Angelo?»
    Er erinnerte sich. Sehr deutlich, obwohl er sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Sie war älter als Enrico und hieß Domenica, weil sie an einem Sonntag geboren worden war. Das hatte die alte Contessa, ihre Mutter, ständig erzählt. Domenica, das Sonntagskind. Ihre Augen waren ähnlich verhangen gewesen wie die ihres Bruders, und später hatte sie irgendwas studiert. Archäologie? Kunstgeschichte? Guerrini konnte sich nicht erinnern.
    «Wie geht es Domenica?», fragte er, dachte aber gleichzeitig, dass alles in die falsche Richtung lief. Er wollte Domenica gar nicht wiedersehen, auch den Landsitz der Colaltos nicht, der ein paar Kilometer von Portotrusco entfernt auf einem Hügel lag. Es gab eine Erinnerung an Domenica, die er völlig verdrängt hatte und die jetzt plötzlich wie der Fetzen eines vergessenen Traums zurückkehrte: blitzende weiße Zähne, provozierendes spöttisches Lachen. Überschlank war sie gewesen, beinahe eckig, mit langen schwarzen Haaren und vielen Leberflecken auf sehr heller Haut. Eines Abends hatte sie ihn mit auf den Dachboden des riesigen Hauses der Colaltos genommen. Angeblich, um ihm die Uniform zu zeigen, die ihr Urgroßvater bei den Unabhängigkeitskämpfen getragen hatte. Guerrini war damals knapp vierzehn gewesen. Sie vielleicht zwanzig oder noch älter.
    Plötzlich hatte er wieder den Geruch von Staub und eingemotteten Kleidern in der Nase. Genau wie damals. Ganze Reihen von Gewändern hingen auf dem Dachboden wie die schlaffen Körper von Erhängten. Dazwischen Domenica, die sich vor ihm versteckte und hexenhaft lachte. Sein eigenes Herzklopfen, diese unklare Erwartung und die Ahnung, dass es dort oben Interessanteres gab als die Uniform des Urgroßvaters. Wie ein Vampir hatte sie sich auf ihn gestürzt, unerwartet, hatte ihn in den Hals gebissen. Er hatte sich losgerissen und war panisch geflüchtet. Hals über Kopf war er die Treppe hinuntergestolpert, verfolgt von diesem spöttischen Lachen, bis er wieder vor dem Esszimmer angekommen war, in dem seine Eltern mit dem Conte und der Contessa beim Digestivo saßen.
    Später, im Haus am Strand, hatte er seinen Hals im Spiegel betrachtet und die Abdrücke ihrer Zähne gefunden. Von da an war er sicher gewesen, dass Domenica eine Vampirin war. Seine Flucht war eine der vielen Niederlagen gewesen, die ihm die Colaltos zugefügt

Weitere Kostenlose Bücher