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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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zum Beispiel, das ihn auch in seiner Kindheit und Jugend häufig befallen hatte, trotz der scheinbar unbeschwerten Urlaubstage.
    Er hatte noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, war als Erwachsener einfach nicht mehr nach Portotrusco gefahren. Seltsamerweise hatten auch seine Eltern diese traditionelle Sommerreise irgendwann aufgegeben und waren stattdessen zu Freunden in die Marken gereist oder zu einer Verwandten seiner Mutter nach Elba. Wann genau war das gewesen? Guerrini konnte sich nicht genau erinnern. Jedenfalls hatte er bereits studiert.
    Keiner hatte ein Wort darüber verloren, und Guerrini fragte sich, warum? Warum wurde in seiner Familie – und vermutlich in den meisten anderen – nicht über die wesentlichen Dinge gesprochen, nicht einmal danach gefragt? Er selbst hatte auch nicht gefragt, hatte diese Verhaltensänderungen hingenommen wie eine Wetteränderung. Mit leichtem Unbehagen. Selbst wenn er gefragt hätte … die Antwort wäre sicher banal gewesen. So was wie: Wir möchten auch mal etwas anderes sehen. Es gibt überall schöne Orte in Italien, Portotrusco ist doch nicht der einzige.
    Trotzdem musste damals etwas geschehen sein. Das Telefongespräch mit seinem Vater fiel Guerrini wieder ein. Der alte Fernando war voll Abwehr gewesen. Seine Geschäfte und seine Beziehung zu Colalto gingen seinen Sohn nichts an! Basta! Das passte zum alten Guerrini, aber es passte auch wieder nicht. Wenn es Heldentaten zu berichten gab, dann wurde er stets sehr gesprächig. Offensichtlich hatten die Geschäfte mit den Colaltos nichts mit Heldentaten zu tun. Guerrini sah zum Haus hinüber und entdeckte Lauras Beine auf der Brüstung der Terrasse. Vermutlich wunderte sie sich über seine plötzlichen Stimmungsschwankungen, sie hatte es ja bereits angedeutet. Wie sollte sie seine Launen auch verstehen, wenn er so tat, als wäre dies ganz einfach ein Urlaub, der von ein paar unerfreulichen Zufällen gestört wurde. Er wollte nicht mehr länger schweigen, wollte ihr von der Vergangenheit erzählen. Er hatte ja schon damit angefangen … von den Rändern her. Entschlossen folgte er den rauen Sandsteinplatten, die zum Haus hinüberführten.
     
    Commissario Guerrini servierte Birnenschnitze und jungen Pecorino, leicht mit Honig beträufelt. Außerdem Wildschweinschinken mit frischen Feigen und warmem toskanischem Vollkornbrot. Etwas matt hatte Laura ihre Hilfe angeboten, dann aber erleichtert und weiterhin ausgeklinkt in ihrem Liegestuhl ausgeharrt, als er das späte Frühstück allein zubereiten wollte.
    «Bleib liegen!», sagte er und rückte den Tisch an ihren Liegestuhl heran. «Die reichen Römer haben bei ihren Gastmahlen auch im Liegen gegessen.»
    «Bin nicht reich», murmelte Laura, «aber gern Gespielin eines reichen Senesers namens Guerrini.»
    «Er ist auch nicht reich, der Seneser.» Guerrini steckte ihr ein Stück Schafskäse in den Mund. «Er tut nur so!»
    «Macht nichts.» Laura kaute genüsslich, leckte sich dann den Honig von den Lippen und sah Guerrini nachdenklich an.
    «Welches Gedicht von Petronius wolltest du mir eigentlich nicht vorlesen, als ich in der Badewanne lag?»
    «Woher kennst du Petronius, Laura?»
    «Ich kenn ihn gar nicht. Jedenfalls nicht persönlich. Dazu ist er schon zu lange tot.»
    «Aber seine Gedichte kennst du.»
    «Nur ein paar. Mein Vater hat mir vor vielen Jahren einen Band mit Dichtungen des Abendlands geschenkt. Da standen auch ein paar Verse von Petronius drin. Und so was Ähnliches wie eine kurze Biographie. Angeblich war er ein Lebemann – was genau damit auch gemeint ist –, verfasste Weltliteratur, und als er bei Kaiser Nero in Ungnade fiel, hat er sich in einem warmen Bad die Pulsadern aufgeschnitten, während er seinen letzten Becher Wein leerte. Das ist doch eine sehr noble Art, aus dem Leben zu scheiden, oder?»
    «Nicht schlecht. Weshalb ist er in Ungnade gefallen? Weißt du das auch?»
    «Ich erinnere mich dunkel daran, dass man ihm eine Verschwörung gegen den Kaiser vorwarf. Aber Nero witterte sowieso überall Verschwörungen und war ziemlich irre. Außerdem muss ich gestehen, dass ich das Hauptwerk von Petronius, Das Gastmahl bei Trimalchio, niemals gelesen habe und wahrscheinlich auch nie lesen werde.» Sie griff nach einer Scheibe Wildschweinschinken, schnupperte daran, rollte sie um eine Feige und steckte sie in den Mund.
    «Warum bist du so entsetzlich gebildet, Laura?»
    «Bin ich überhaupt nicht. Mein Vater hatte eine Vorliebe für die alten

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