Die Stunde der Zikaden
jemand in die Hände. Entsetzt riss Orecchio die Augen auf, starrte in ein Gesicht, das gar keins war, nur aus dunkelglänzenden Punkten bestand, die ihn hinter zwei Schlitzen anstarrten. Der Henker! Es musste der Henker sein! Henker verbargen ihre Gesichter immer unter Kapuzen.
«Reiß dich zusammen und setz dich hin, verdammt nochmal!»
Harte Hände zogen Orecchio hoch und schüttelten ihn. Dann saß er auf einer Art Pritsche, den Rücken an die Wand gepresst, die Beine angezogen. Der Vermummte lehnte ihm gegenüber, hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
«Wo wolltest du mit den Paketen hin, eh?»
«Ich? Nirgendwohin.»
«Erzähl keinen Mist!»
«Ich hab gemacht, was ich machen sollte! Der Auftrag! Ich hab ihn ausgeführt! Ich hab sie in Sicherheit gebracht! Das hat der Fahrer gesagt. Der Fahrer im weißen Lieferwagen. Er hat gesagt, dass ich die Pakete in Sicherheit bringen soll!»
«Du hast sie versteckt, weil du sie für dich selbst haben wolltest! Gib’s zu!» Der Vermummte machte eine drohende Bewegung, Orecchio duckte sich.
«Niemals! Ich wollte sie nicht für mich! Ich bin hundertprozentig zuverlässig! Hundertprozentig!»
«Warum hast du dann das eine Paket in deinem Auto versteckt, eh? Du weißt genau, was mit Leuten passiert, die auf eigene Rechnung arbeiten.»
Orecchios Zähne klapperten. Er konnte nichts dagegen tun.
«Ich, ich weiß doch nicht mal, was in den Paketen drin ist. Das eine hab ich im Auto vergessen, weil es schnell gehen musste. Es ist alles da! Alles in dem Keller im Wald! Alles! Auf mich könnt ihr euch hundertprozentig verlassen!»
«Wieso hast du dann das Gewehr mitgenommen, eh? Wieso bist du einfach abgehauen und hast die Pforte unbewacht gelassen? Ist das zuverlässig? Hundertprozentig?»
Orecchio rang nach Worten, stammelte etwas Unverständliches, ehe er wieder einen Satz zustande brachte.
«Ich, ich wollte nachschauen, ob die Pakete noch da sind. Weil jemand das Paket aus meinem Auto geklaut hatte. Ich dachte, wenn jemand mich verfolgt, dann kann ich die anderen Pakete verteidigen. Deshalb hab ich das Gewehr mitgenommen!»
Der Vermummte stieß sich von der Wand ab und spuckte vor Orecchio auf den Boden.
«Du hast kein Recht dazu, verstanden? Du befolgst Anweisungen! Sonst nichts!»
«Aber es kamen keine. Ihr müsst das doch wissen!»
«Natürlich wissen wir das. Wenn keine kommen, dann bedeutet das: abwarten! Hast du verstanden?» Der Vermummte sprach sanft, und doch liefen bei seinen Worten Schauer über Orecchios Körper.
Jetzt, dachte er. Jetzt sofort. Er kniff die Augen zu, riss sie aber gleich wieder auf, weil er die Beine seiner Tante Amalia gesehen und gleichzeitig einen Knall gehört hatte.
Der Vermummte war verschwunden, als hätte er sich weggezaubert. Orecchio saß allein auf der Pritsche. Zitternd zog er die Wolldecke um sich, die er erst jetzt entdeckte. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, in der rechten Ecke stand ein Eimer, in der linken eine Flasche Wasser. Orecchio betastete seinen Hals, verwundert über seine Unversehrtheit. Er hatte den Draht schon gespürt. Einen dünnen, starken Draht, der ihm die Luft abschnitt.
Sie werden kommen, dachte er. Wahrscheinlich zu dritt. Zwei werden mich festhalten, und der Dritte wird mich erwürgen. Er hatte das im Fernsehen gesehen. Sie machten es immer so.
LAUTES KLOPFEN weckte sie am nächsten Morgen. Guerrini fuhr auf, tastete nach seiner Uhr, knipste die Nachttischlampe an. Beinahe neun. Das Klopfen an der Tür, die vom Schlafzimmer auf einen kleinen Balkon und zur Treppe in den Garten führte, wurde heftiger.
«He! Angelo! Sei morto?»
«Wer ist denn das?» Laura hatte Mühe, wach zu werden.
«Keine Ahnung. Jedenfalls kennt er meinen Vornamen. Deshalb nehme ich an, dass es sich um den edlen Conte Enrico handelt! Geh lieber ins Badezimmer. Ich möchte ihm nicht die Gelegenheit geben, eindeutige Bemerkungen zu machen.»
Laura schnitt eine Grimasse und verschwand im Bad, ließ aber die Tür angelehnt. Inzwischen schlüpfte Guerrini in seine Jeans, kämmte mit den Fingern sein Haar und rief: «Aspetti, vengo subito!» Er vergewisserte sich, dass Laura wirklich nicht mehr zu sehen war. Erst dann öffnete er den Riegel der Glastür und die hölzernen Läden und trat einen Schritt zurück, weil die Sonne ihn blendete. Auf der gemauerten Einfassung des Balkons saß tatsächlich Enrico di Colalto. Locker ließ er ein Bein baumeln und reckte den Hals, um an Guerrini vorbei ins Schlafzimmer
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