Die Stunde der Zikaden
dem Dunkel verbündet …
In der offenen Terrassentür stand ein Mann, ein untersetzter Schattenriss mit großen Füßen.
«Scusa, Signore. Ich bin der Glaser. Der Conte schickt mich. Das hier ist wohl der Schaden?» Der Schattenriss bückte sich, untersuchte die Tür und richtete sich schnaufend wieder auf.
«Die nehm ich mit!» Er winkelte den Arm an und schaute auf sein Handgelenk, obwohl er gar keine Uhr trug. «Dauert ungefähr zwei Stunden, dann bring ich sie wieder. Ist ziemlich viel zu Bruch gegangen bei diesem Sturm. Na ja, gut fürs Geschäft.» Er lachte nicht, was Guerrini eigentlich erwartet hatte. Dieser eigenartig leere Moment trat gleichzeitig mit einer Pause auf der CD ein.
«Grazie», erwiderte Guerrini deshalb schnell. «Falls wir nicht da sind, stellen Sie die Tür einfach auf die Terrasse. Ich hänge sie dann selbst ein.»
Der Schattenriss zuckte die Achseln. «Sie haben ja noch die Holzläden … aber ich sage Ihnen, Signore, es wird viel eingebrochen in der letzten Zeit. Und jetzt noch der Sturm. Beh, mir soll’s recht sein!»
Mit zwei, drei eleganten Schwüngen hob er die Tür aus ihren Angeln und trug sie davon. Guerrini suchte sein Handy, verließ das Haus und stieg auf die Nachbardüne, die beinahe so hoch war wie das Dach seines Ferienhauses. Zufrieden stellte er fest, dass er Empfang hatte, und drückte auf die Taste, die ihn hoffentlich mit seinem Kollegen Tommasini in Siena verbinden würde. Zu seinem Erstaunen funktionierte es tatsächlich, die Nummer war nicht besetzt, es meldete sich auch nicht D’Annunzio, sondern Tommasini selbst und sagte: «Buon giorno, Commissario!»
«Buon giorno, Tommasini, tutto bene?»
«Certo, Commissario. Tutto bene. Wie ist der Urlaub? Was kann ich für Sie tun?»
«Der Urlaub ist sehr schön. Trotzdem kannst du etwas für mich tun. Schau bitte nach, ob du in den Tiefen unseres Überwachungsstaates etwas über einen Enrico di Colalto in Erfahrung bringen kannst. Ganz allgemein, es geht um nichts Spezielles. Aber schau genau nach. Vielleicht gibt es auch etwas über seinen Vater, Piero di Colalto. Der ist aber schon tot. Wenn du was findest, dann schick mir bitte eine Mail.»
«Eine E-Mail?» Tommasini klang verblüfft.
«Ja, natürlich.»
«Sie haben Ihren Laptop mit in den Urlaub genommen, Commissario?»
«Ja!»
«Es geschehen noch Zeichen und Wunder!»
«Was?»
«Nichts, Commissario.»
«Bene. Kannst du das für mich erledigen? Hast du die Namen aufgeschrieben?»
«Enrico di Colalto, Piero di Colalto.»
«Genau. Bin gespannt, ob du was findest.»
«Arbeiten Sie, Commissario?»
«Nein.»
Ein paar Sekunden lang blieb es still im Telefonino, und Guerrini konnte die unausgesprochenen Fragen seines Kollegen beinahe hören, doch er tat so, als wäre nichts.
«Ja, dann …» Tommasinis Stimme klang zögernd. «Sie können übrigens froh sein, dass Sie nicht in der Questura sein müssen. Diese Renovierungsarbeiten am Dom werden immer schlimmer. Bei uns fällt schon der Putz von den Wänden.»
«Na, vielleicht werden unsere Büros dann auch renoviert. Hätten es ja schon lange nötig, nicht wahr?»
«Das bezweifle ich, Commissario!»
«Was?»
«Dass die Questura renoviert wird!»
«Dann bleib ich eben am Meer!»
«Keine schlechte Idee.»
«Mach’s gut, Tommasini, und danke!»
«Keine Ursache, Commissario. Hier ist es ziemlich ruhig. Vicecommissario Lana ist auf irgendeiner Konferenz in Turin. Schönen Urlaub noch!»
Klick. Er war weg.
«Schönen Urlaub noch», wiederholte Guerrini. Das Meer war dunkelblau an diesem Morgen; es sah tief aus und kalt. Auch die Insel Giglio war dunkelblau, wie eine zufällige Erhebung des Meeres, ein Wasserberg. Guerrini steckte das Handy in die Hosentasche und dachte darüber nach, ob er all diese Entwicklungen auf geheimnisvolle Weise selbst herbeigeführt hatte. Noch konnte er entkommen, mit Laura nach Rom oder Orvieto fahren, irgendwo im Hinterland eine Wohnung mieten. Aber das wollte er inzwischen nicht mehr. Er wollte sehen, was das Leben mit ihm machte, wenn er nicht weglief, nicht aktiv eingriff, nicht Polizist war, sondern einfach nur abwartete.
Gut, er schnüffelte hinter Colalto her – ein bisschen jedenfalls. Aber auch das hatte vor allem damit zu tun, dass er etwas über sein eigenes Leben, seine eigene Vergangenheit erfahren wollte. Nur das: etwas erfahren! Was? Das konnte er nicht genau benennen, höchstens umschreiben, umkreisen. Dieses Unbehagen in der Gegenwart der Colaltos
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