Die Stunde der Zikaden
«Sei da nicht so sicher, Laura. Ich halte inzwischen alles für möglich.»
«Gut, dann überlasse ich dir, ob wir sie besuchen oder nicht. Aber einen Spaziergang brauche ich jetzt auf jeden Fall.»
Sie liefen schnell am Strand entlang. Wieder stieg Nebel vom Meer auf, verhüllte erst die fernen Lichter von Portotrusco, dann den Strand, legte sich kalt und feucht auf ihre Gesichter, drang in ihre Lungen.
Wie zufällig verließen sie irgendwann den Strand, schlugen den Weg hinter den Dünen ein und endlich die schmale Straße, parallel zum Meer, an der die ersten Villen lagen. Endlich standen sie vor dem einzigen erleuchteten Haus, es war natürlich das Haus der Schweizer. Ein Hund bellte, raste durch den Garten auf sie zu, blieb in einiger Entfernung stehen und stieß ein hohes Jaulen aus. Es war ein großer weißer Hund, ein vierbeiniges Gespenst in der Dunkelheit.
«Komm her, Gino!» Kehliges Schweizerdeutsch klang vom Haus her. «Komm her! Hierher!»
Der Hund rannte noch zweimal bellend hin und her, kehrte dann aber gehorsam zum Haus zurück.
«Isch da wer? Chi è?»
Sie konnten gehen oder sich zu erkennen geben. Laura überließ es Angelo, fühlte so was wie Gänsehaut, als er nach kurzem Zögern rief: «Wir sind die Nachbarn! Wollten nur schnell vorbeikommen. Signor Wanner hat uns eingeladen.»
«Ah, natürlich! Kommen Sie, kommen Sie! Gino ist wachsam, aber nicht gefährlich!»
Auf einmal wurde der Garten hell, kleine runde Lampen wiesen ihnen den Weg zum Haus hinauf. Guido Wanner streckte ihnen beide Hände entgegen und begrüßte sie beinahe überschwänglich. Er stellte den weißen Hund vor, als wäre es ein Mensch.
«Reinrassiger Maremmano, nicht wahr, Gino!»
Übertrieben, dachte Laura. Alles übertrieben.
Wanner rief nach seinem Mitbewohner und bat sie mit ausladender Gebärde ins Haus.
Es war eine Art Bungalow. Das Wohnzimmer hatte die Ausmaße eines Ballsaals und zwei Ebenen, die durch flache Stufen verbunden waren. Alles war grau – die Bodenfliesen, die Wände, die meisten Möbelstücke. Nur hier und da waren starke rote Akzente gesetzt: ein roter Sessel, ein abstraktes Gemälde in Rottönen, rote Rosen auf dem Esstisch, rote Kissen auf der grauen Sitzlandschaft, eine lebensgroße, rote Frauenbüste, kopflos.
Der schöne weiße Hund lief unruhig in dem edlen Ambiente herum. Eigentlich müsste er rot eingefärbt werden, dachte Laura – allerdings machte sich sein Weiß auch nicht schlecht. Auf dem riesigen grauen Sofa mit den roten Kissen saß ein Mann, ein zweiter betrat die Bühne durch einen Seiteneingang.
Guido Wanner stellte vor: «Sebastian Ruben, unser Nachbar zur Linken!» Der Mann auf dem Sofa erhob sich halb und nickte ihnen zu.
«Richard Stamm, mein Kompagnon. Wir haben dieses Haus zusammen gekauft.»
Richard Stamm trat in den Lichtkegel einer Lampe und verbeugte sich lächelnd. Er war jünger als Wanner, höchstens Mitte dreißig, und trug seinen Kopf kahlrasiert. Er wirkte kantiger, hatte asketische Züge.
«Jetzt sind wir alle beisammen!», sagte er mit starkem Schweizer Akzent auf Italienisch. «Ein richtiges Nachbarschaftstreffen, fehlt nur noch der dicke Mailänder mit seiner aufgebrezelten Freundin.»
«Vergiss nicht Signor Ferruccio!», warf Wanner ein.
«Wer ist das?», fragte Laura.
«Ein alter Dichter. Mehr weiß ich auch nicht. Er wohnt ständig hier in Il Bosco . Was wollen Sie trinken?»
«Einen Digestivo, wenn möglich. Wir haben beide zu viel gegessen.»
Sie machten Konversation. Wetter, Wetter, der weiße Lieferwagen, die Polizei, der verschwundene Fahrer, die Einbrüche, Wetter. Als sie endlich halbwegs durch waren, hatte Laura ihren bitteren Artischockenlikör längst ausgetrunken, und Guerrini war bereits beim zweiten Brandy. Schweigen zog ein. Sie kannten sich nicht. Was nun?
«Wo kommen Sie her?» Laura sah den jungen Mann mit dem interessanten Namen Ruben an. Er lächelte, fuhr mit der Hand über sein sehr kurzes Haar, stellte sein Weinglas ab und lehnte sich vor.
«Was vermuten Sie?» Er sprach italienisch mit eindeutig deutschem Akzent, streichelte den Hund, der sich vor seinen Füßen ausgestreckt hatte.
«Deutschland!», erwiderte Laura auf Deutsch.
«Könnte sein. Und Sie?»
«Ebenfalls.»
«Woher?»
«München.»
«Ach.»
«Sie auch?»
«Allerdings. Seltsamer Zufall.»
«Ja, seltsam.»
«Kennen Sie die Gegend?»
«Nein, ich bin zum ersten Mal hier.»
«Ich auch.»
«Allein?»
«Ja, allein.»
«Ist das nicht sehr
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