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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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nur eine dunkelbraune Hose und einen schwarzen Pullover.
    Tarnanzug, dachte Laura. Er hat mich beobachtet, jetzt beobachte ich ihn.
    Der Afrikaner breitete seine Arme aus und reckte sich, dann schöpfte er mit beiden Händen vom Meerwasser und benetzte sein Gesicht. Es wirkte wie ein Ritual. Endlich setzte er sich wieder in Bewegung, ging langsam am Brandungssaum entlang Richtung Portotrusco. Laura folgte ihm auf dem Weg hinter den Büschen, duckte sich, hielt Abstand. Nach etwa einem halben Kilometer sah er sich um, verließ den Strand und schlug einen schmalen Pfad zwischen den Häusern ein. Hier hätte Laura ihn beinahe aus den Augen verloren, weil er weit voraus war und sie kaum Deckung finden konnte.
    Plötzlich war er verschwunden. Irgendwo bellte kurz ein Hund, schlug eine Tür.
    Laura ging weiter, gab die Spaziergängerin, trödelte, bückte sich nach einer Feder, kickte einen Pinienzapfen vor sich her. Die Villen, links und rechts vom Weg, lagen verborgen hinter dichten Oleanderhecken. Keiner wohnte hier im Oktober, alle Rollos waren herabgelassen, kein Laut war zu hören. Das siebte Haus rechts war anders. Offen lag es unter einem Dach von Schirmpinien. Im Innenhof parkte ein alter Mercedes. Gebaut war es aus Natursteinen, die Fenster waren halbrund. Ein ungewöhnliches Haus.
    Es kann nicht sein, dachte Laura. Was macht ein afrikanischer Händler in so einem Haus? Vielleicht ist er gar kein Straßenhändler? Was hatte Guerrini über Paranoia gesagt?
    Sie prägte sich die Hausnummer ein, die ähnlich lang und kompliziert war wie die Hausnummern in Venedig. Dann machte sie sich auf den Rückweg.
     
    «Im Haus Nummer 10455 DL wohnt Signor Ferruccio! Schon seit fünfzehn Jahren. Er ist Dichter, Alberto Ferruccio! Berühmt, er ist berühmt, Dottore!» Fabrizio nickte heftig.
    «Wohnt er allein in dem Haus?» Guerrini stand an seinen Lancia gelehnt.
    «Ja, ganz allein. Eine Frau aus Portotrusco kommt jeden Tag und kümmert sich um seinen Haushalt. Kocht, putzt, wäscht und all das.»
    «Sonst niemand?»
    «Manchmal hat er Besuch. Familie, Kollegen. Aber meistens ist er allein. Er sagt, dass er gern allein ist. Wer’s mag! Für mich wär das nichts, Dottore. Ich hab gern meine Familie um mich und viele Kinder und jede Menge Lärm.» Fabrizio kratzte sich am Ohr und warf einen prüfenden Blick auf Guerrini, der sorgsam zwei lange Piniennadeln von der Kühlerhaube seines Wagens entfernte.
    «Warum fragen Sie, Dottore? Haben Sie jemanden gesehen? Irgendwas Verdächtiges? Glauben Sie, dass Ferruccio was mit Orecchios Verschwinden zu tun hat? Aber das kann nicht sein …»
    «Nein. Alles ganz harmlos. Wir sahen beim Spaziergang einen alten Mercedes vor dem Haus stehen und fragten uns, wer da wohl wohnt.»
    Fabrizio schien von dieser Antwort nicht überzeugt, bewegte unruhig seine Füße, die in schweren Arbeiterstiefeln steckten.
    «Na ja, dann», murmelte er und fügte vorwurfsvoll hinzu: «Wir haben noch immer nichts von Orecchio gehört!» Plötzlich schaute er wachsam um sich, bewegte dabei den Hals ruckartig wie ein Vogel und steckte Guerrini einen Zettel zu.
    «Das ist die Adresse von Orecchio», flüsterte er. «Seine Mutter wohnt auch in dem Haus. Ich hab es aufgeschrieben für Sie, Dottore. Nur für den Fall, dass Sie ein Commissario sind. Entschuldigung, Dottore. Ich will nicht aufdringlich sein … aber passen Sie auf sich auf und die Signora ebenfalls!»
    Guerrini nickte, steckte den Zettel in die Hosentasche und stieg zu Laura in den Wagen.
    «Ferruccio wohnt in dem Haus», sagte er grimmig. «Der Dichter Ferruccio. Hast du von ihm gehört?»
    «Nicht wirklich.»
    «Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt. Aber ich habe ein paar seiner Essays und Romane gelesen. Nicht schlecht. Harte Geschichten. Im Zentrum immer: das Ende Italiens! Ferruccio sagt voraus, dass wir von der Mafia verschlungen werden, an Umweltverschmutzung verenden und durch das Fernsehen völlig verblöden. Außerdem sieht er einen neuen Faschismus voraus, weil wir den alten verdrängt haben und nur deshalb eine Regierung wie die heutige gewählt werden konnte.»
    «Noch was?»
    «Ja, jede Menge! Das Ende der italienischen Kultur und so was wie den endgültigen Untergang des Römischen Reichs.»
    «Ist er Toskaner?»
    «Ich glaube, warum?»
    «Du hast einmal zu mir gesagt, dass alle Toskaner eine depressive Ader hätten und eher an die Hölle als an das Paradies glauben würden.»
    «Ah, natürlich glauben sie an das Paradies! Immer

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