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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Colalto schien sich nach einer Weile unbehaglich zu fühlen und versuchte sich in etwas leichterer Konversation, die von seiner Schwester aber rüde unterbrochen wurde. Als sich die Tür am Ende des Salons erneut öffnete und ein untersetzter Mann mit breitem Schädel, weißer Jacke und weißen Handschuhen zum Mahl lud, war Laura erleichtert.
    Der Butler, dachte sie. Sieht aus wie der Gärtner, der sich verkleidet hat, weil er einen Mord vertuschen will. Er passt nicht in dieses Esszimmer, das ebenfalls ein surrealer Traum ist! Oder vielleicht passt er doch!
    Vor ihr lag eine lange Tafel, gedeckt mit edlem Porzellan, Silber und Kristallgläsern. Erlesene Antipasti waren auf einer großen Platte angerichtet, es duftete nach frischgeröstetem Brot. Domenica hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sie stürzte sich auf die Antipasti wie eine Wölfin. Nach den Vorspeisen gab es hausgemachte Bandnudeln mit Trüffeln, danach wurden riesige Bistecche alla fiorentina aufgetragen. Keine Spur von dem Wildschwein, das Guerrini vorausgesagt hatte. Laura hatte Mühe mit der Masse Fleisch und ließ den größten Teil liegen. Sie hielt sich an die grünen Bohnen und die gedünsteten Tomaten. Domenica aber verschlang das blutige Steak mit solcher Gier, dass Laura sicher war, dass Guerrini sie zu Recht für eine Vampirin hielt.
    «Unser eigenes Fleisch», murmelte Colalto. «Wir züchten Chianina-Rinder, sie haben das beste Fleisch. Alles, was ihr hier esst, stammt von unserem Land, sogar die Trüffel. Schmeckt es Ihnen nicht, Laura? Ich darf doch Laura zu Ihnen sagen?»
    Er prostete ihr zu.
    «Ich esse nicht viel Fleisch», erwiderte sie und hob ebenfalls ihr Glas.
    Unser eigenes Fleisch, dachte Laura, unser Wein, unsere Schweine, unsere Trüffel, unser Öl. Sie nahm sich vor, doch noch Das Gastmahl bei Trimalchio von Petronius zu lesen. Ihr Vater hatte es ihr immer wieder ans Bett gelegt, weil es angeblich eine der besten Satiren über Reiche sei. Sie hatte es stets zur Seite geschoben und nicht einmal aufgeblättert. Vater und seine Römer.
    Domenica sprach nicht während des Essens, war ausschließlich mit dem Zerteilen und Zerkauen des Fleisches beschäftigt, aß sehr schnell und strich zuletzt beinahe zärtlich mit dem Messer über den großen blutigen Knochen, der auf ihrem Teller zurückgeblieben war. Danach sah sie auf und richtete ihren Blick auf Guerrini.
    «Ist dieser Urlaub Tarnung oder warum tauchst du nach beinahe zwanzig Jahren hier auf?»
    «Zehn Jahre, Domenica. Ich war vor zehn Jahren zum letzten Mal hier. Allerdings nur kurz und teilweise dienstlich.»
    «Da habe ich dich nicht gesehen.» Sie starrte wieder auf ihren Knochen.
     
    Plötzlich ekelte sich Guerrini vor dem Fleisch auf seinem Teller, ekelte sich vor dem Schauspiel, das Enrico und Domenica aufführten. Wenn Tommasini ihm rechtzeitig ein paar Informationen über die Colaltos hätte zukommen lassen, würde er sich besser fühlen. So aber war alles unklar, und er fühlte sich ihnen ausgeliefert. Selbstbewusst, souverän, gelassen wäre er gern gewesen. Was er aber empfand, war Wut und Ekel. Es half ein bisschen, dass Laura bei ihm war. Auch dieser lächerliche Butler mit den zu großen Händen in weißen Baumwollhandschuhen half. Vermutlich verdeckte er damit seine schmutzigen Fingernägel und die Erde in den Furchen seiner Haut, weil er tagsüber auf den Feldern arbeitete. Jetzt schob Domenica den Teller von sich.
    «Was erforschen Sie im Meer?» Sie nahm also Laura aufs Korn.
    «Würmer, Contessa. Genauer gesagt: Wattwürmer! Sie sind wichtige Bioindikatoren. Das Norddeutsche Wattenmeer ist eine ökologisch immens wichtige Meereslandschaft mit einmaliger Artenvielfalt. Die Qualität und Anzahl der Wattwürmer ist ein Indikator für die Gefährdung oder Intaktheit dieses Ökosystems.»
    Domenica leckte sich die Lippen, und Guerrini meinte Blutstropfen in ihren Mundwinkeln zu sehen. Plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken und lachte, wobei sie röchelnd die Luft einsog. Endlich hielt sie inne. «Würmer! Eine Wurmforscherin! Großartig, nicht wahr, Enrico! Noch nie zuvor hatten wir eine Wurmforscherin zu Gast!»
    «Hochinteressant, Domenica! Würmer sind übrigens auch wesentlich am Erfolg unserer Landwirtschaft beteiligt. Wie groß sind die Wattwürmer, Laura?»
    Falle, dachte Guerrini alarmiert. Lass dich nicht reinlegen, Laura!
    «Die kräftigsten werden bis zu zwanzig Zentimeter lang. Im Gegensatz zu den Erdwürmern, besser Regenwürmern, die Sie

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