Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
Vom Netzwerk:
benötigen, Enrico, sind sie nicht blassgrau, sondern von rötlich brauner Färbung. Sie filtern Sand und Schlick – fressen ihn, um es deutlicher zu sagen, und scheiden ihn wieder aus. Bei Ebbe findet man auf dem Wattboden überall kleine geringelte Häufchen, die aussehen wie kleine graue Spaghettiportionen. Das sind die Ausscheidungen der Wattwürmer.»
    «Sehr interessant.» Conte Colalto wusste offenbar nicht recht, ob er Lauras Ausführungen ernst nehmen sollte oder ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Guerrini wiederum hatte keine Ahnung, ob Lauras wissenschaftlicher Exkurs irgendwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte, aber sie trug ihre Thesen so überzeugend vor, dass er sie am liebsten umarmt hätte.
    «So, genug von den Würmern!» Domenica klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch. Der vierschrötige Butler eilte herbei und räumte den Tisch ab.
    «Und du Angelo? Hast du geheiratet, Kinder?»
    Biest, dachte Guerrini. Jetzt willst du Laura eins auswischen.
    «Nein!» Er log, verschwieg seine Ex-Frau Carlotta. «Laura und ich leben in freier Partnerschaft.»
    «Und mit den Würmern!» Domenicas anzügliches Grinsen verlieh ihrem Gesicht etwas Gewöhnliches, ließ sie fast hässlich wirken.
    «Ja, und mit den Würmern», entgegnete Guerrini. «Ziemlich angenehme Zeitgenossen übrigens. Sehr friedlich.»
    Er trank einen Schluck Rotwein, lächelte von Domenica zu Enrico. «Und ihr beide? Habt ihr geheiratet? Kinder?»
    Domenicas Mundwinkel zuckten verächtlich. «Ich bin internationale Expertin für etruskische und vorderasiatische Kunst. Ich berate unzählige Museen. Da hat man keine Zeit für solche Dinge.»
    «Und du, Enrico?»
    «Beh, was für Fragen.» Er strich über seinen Bart, hob die schweren Lider ein wenig an. «Die meisten Beziehungen werden schnell zu klebrig, wenn du verstehst, was ich meine, Angelo.»
    «Nein, ich verstehe nicht.»
    «Na, ganz einfach. Die meisten Frauen wollen schnellstens heiraten. Sie hängen sich an uns Männer und lassen nicht mehr los.»
    Guerrini fühlte sich plötzlich besser. Sein Hass auf Enrico wich einer Mischung aus Verachtung und Mitleid. Colalto und seine Schwester erschienen ihm nicht länger bedrohlich, eher wie absurde neurotische Überbleibsel einer aussterbenden Klasse. Er fühlte sich erleichtert und keineswegs beleidigt, als Domenica nach dem Caffè aufstand, sich mit knappem Kopfnicken verabschiedete und nicht wiederkam. Und er hörte aufmerksam zu, als Enrico vor den Einbrüchen am Strand warnte und meinte, dass man schon sehr mutig und Commissario sein müsse, um dort im Oktober Ferien zu machen.
    «Und was ist mit den Schweizern, dem Deutschen und Ferruccio?»
    «Verrückte!», lächelte der Conte. «Lauter Verrückte!»
    Jetzt allerdings fühlte Guerrini sich wieder bedroht. Diesmal nicht aufgrund seiner Kindheitserinnerungen, sondern wegen gewisser Erfahrungen, die er als Commissario gesammelt hatte.
     
    «Wir sind also Verrückte, und er hat uns eine Warnung zukommen lassen, die eigentlich typisch für die Mafia ist.» Guerrini fuhr ein bisschen zu schnell die steile Zypressenallee hinab.
    «Welche Warnung?»
    «Er hat gesagt, dass ich sehr mutig wäre, ausgerechnet hier im Oktober Ferien zu machen. Sie drohen selten direkt. Eher loben sie den Mut ihrer Gegner.»
    «Hat er das getan?»
    «Er hat.»
    Laura stieß mit dem Fuß gegen etwas, tastete danach und hielt die rote Tragetasche in der Hand.
    «Warum hast du den Wein im Wagen gelassen?»
    «Ich habe ihn vergessen, absichtlich vergessen. Und ich bin froh darüber. Dieser schreckliche Butler hätte ihn sonst mit spitzen Fingern genommen und wahrscheinlich selbst getrunken.»
    «Okay! Wie geht es deinem Kindheitstrauma?»
    «Beinahe geheilt.»
    «Bene. Wie war das mit der Mafia?»
    «Die Warnung klang nach Mafia.»
    «Nimmst du sie ernst?»
    «Vielleicht. Du warst übrigens hervorragend als Meeresforscherin.»
    «Danke.»
    «Gibt es diese Würmer wirklich?»
    «Natürlich. Ich hielt sie für eine Bereicherung des Menüs. Ich hasse blutige Bistecche!»
    «Glaubst du mir jetzt, dass Domenica eine Vampirin ist?»
    «Ja.»
    «Ich liebe dich, Laura.»
    «Weil ich Domenica für eine Vampirin halte?»
    «Nein, weil du eine so überzeugende Wurmforscherin bist.»
    «Ich hab noch ganz andere Sachen drauf, Angelo. Warum fährst du eigentlich so schnell?»
    «Weil ich hier weg will!» Er lachte und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. Die nächste Kurve nahm er ein wenig zu schnell, der Lancia

Weitere Kostenlose Bücher