Die Stunde der Zikaden
standen, winkte von drinnen jemand, und kurz darauf ließ Enrico di Colalto sie ein. Wie bei ihrer ersten Begegnung küsste der Conte Lauras Hand, ohne sie mit den Lippen zu berühren, und fasste Guerrini dann kurz an der Schulter.
«Ich freue mich, freue mich sehr, dass ich euch bei uns begrüßen darf! Kommt herein. Im Kamin brennt Feuer. Die Abende werden allmählich kühl.»
Es war überwältigend. Ein anderes Wort fiel Laura nicht ein. Einfach nur: überwältigend! Oder vielleicht auch surreal. Sie standen in einer Art Salon mit unzähligen Sofas, Polstersesseln, Tischchen, Sideboards und Kommoden. In einem großen offenen Kamin glühten dicke Holzblöcke, an den Wänden hingen riesige Gemälde in Goldrahmen. Porträts eindeutig adeliger Männer und Frauen mit den Requisiten von Macht und Reichtum. Dicke Kerzen verbreiteten mildes Licht. Enrico di Colalto schien diesen Moment zu genießen, wusste wohl sehr genau, welchen Eindruck dieser nahezu perfekte Raum auf seine Besucher machen musste. Er war offensichtlich selbst beeindruckt, denn er sah sich beinahe verwundert um, atmete dann tief und zufrieden ein.
«Darf ich euch einen Aperitif anbieten? Prosecco, Spumante, Martini, Campari? Wir sollten auf das Wiedersehen anstoßen, nicht wahr, Angelo! Sie sehen übrigens phantastisch aus, Signora!»
Laura musterte ihn. In seinem lässigen dunklen Jackett über schwarzem T-Shirt und schwarzen Jeans, mit dem müden Ausdruck um Augen und Mund, wirkte er genauso surreal wie dieses Herrenhaus.
«Danke», murmelte sie, «ich hätte gern einen Campari. Aber nur einen Hauch Campari mit viel Zitrone und Mineralwasser. Ohne Eis.»
Es ist zu heiß hier, dachte sie und warf einen Blick auf Angelo, um zu sehen, wie er die Situation verkraftete. Auch er trug ein sehr lässiges Jackett, dunkelgrau, ein weißes T-Shirt und dunkelgraue Jeans. Es wirkte beinahe komisch. Wie ein Wettbewerb in Lässigkeit. Hervorragende Szene für einen Werbespot, dachte sie.
Guerrini lehnte an einem Sessel und bat um einen hellen Martini. Er schaffte es tatsächlich, sehr entspannt zu wirken. Plötzlich erinnerte sich Laura an die rote Tasche mit dem Wein aus Scansano, aber sie konnte sie nirgends entdecken.
Als sie die Gläser in Händen hielten, wurde die Tür am Ende des Salons aufgestoßen. Eine große schlanke Frau betrat den Raum, blieb stehen und wartete, bis sich alle Augen auf sie richteten. Domenica war in ein langes schwarzes Kleid gehüllt, das einem Mantel ähnelte. Ihr graues Haar fiel weit über ihre Schultern, und sie reckte das Kinn ein wenig nach oben. Es war zu dämmrig im Salon, um Einzelheiten zu erkennen, doch die Gestalt der Contessa war ebenso erstaunlich wie das gesamte Ambiente.
Die Königin der Vampire, dachte Laura.
«Buona sera.» Domenicas Stimme klang rau, aber sehr deutlich. «Bist du das, Angelo Guerrini? Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehen würde.»
Langsam trat sie in die Mitte des Salons, verlangte einen Prosecco, nickte Laura zu und murmelte: «Ah, die Meeresforscherin.»
Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie nicht mehr so hoheitsvoll wie aus der Ferne. Domenicas Züge waren verwelkt, ihre Augen so müde wie die ihres Bruders. Ab und zu lief ein nervöses Zucken über ihr Gesicht. Sie erinnerte Laura an die dreizehnte Fee aus Dornröschen, diejenige, die nicht eingeladen worden war und deshalb einen Fluch aussprach. Vielleicht auch an Kassandra oder eine der Erinnyen.
Reden. Worüber?
Domenica schlürfte Prosecco, fixierte dann Guerrini und fragte, wie es einem Menschen erginge, der als Commissario durch die Welt liefe. Ob er sich mächtig fühle?
Guerrini winkte ab, noch immer um Lässigkeit bemüht, und bat um eine andere Frage, diese hätte er schon zu oft gehört. Sie aber verlangte nach einer Antwort und nahm sie gleich vorweg: «Ihr müsst euch doch mächtig fühlen, wenn ihr ganze Familien der Camorra zerschlagt, jemand wie Provenzano erwischt, der euch dreißig Jahre lang an der Nase herumgeführt hat!»
«Nein», erwiderte Guerrini unwillig. «Es hat nichts mit Macht zu tun.»
«Womit dann?»
«Mit Glück.»
«Ah, Glück!» Sie stieß ein trockenes Lachen aus und wandte sich dann schroff an Laura. «Welche Meere erforschen Sie?»
«Eigentlich alle. Derzeit aber vor allem die Küstengewässer im Norden Deutschlands.»
«Gibt es da welche?» Ihr Lachen klang spitz und spöttisch.
So ging es weiter. Kaum eine ihrer Bemerkungen war harmlos. Selbst Enrico di
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