Die Stunde der Zikaden
eine Arbeit für mindestens zwei. Obwohl … wenn ich an manche Bücher denke, die ich als junges Mädchen gelesen habe … da gab es durchaus Kutter, die ein Mann alleine fuhr.»
Guerrini überquerte mit zwanzig Stundenkilometer die Brücke, der winzige Lieferwagen vor ihnen stank wie die Pest. Endlich konnten sie zum Kai abbiegen und hielten kurz darauf neben Tibero, der gerade auf sein Motorrad steigen wollte.
«Eh, ich hab noch eine Frage!» Guerrini sprang aus dem Wagen, und Tibero ließ den Motor seiner schweren Maschine aufheulen.
«Was?», brüllte er und hielt eine Hand hinter sein rechtes Ohr.
«Ich hab noch eine Frage!», brüllte Guerrini zurück.
«Wieso sollte ich Ihre Fragen beantworten, verdammt nochmal! Ich hab jetzt Feierabend!»
«Weil ich ein Verwandter von Orecchio bin und verdammt nochmal wissen will, wo er ist oder was mit ihm passiert ist?»
«Woher soll ich denn das wissen? Er arbeitet seit über einem Jahr nicht mehr bei mir!»
«Wieso hast du ihn entlassen?»
Tibero ließ den Motor weiterlaufen, er zuckte die Achseln. «Keine Fische, kein Geld, keine Angestellten! Ganz einfach! Und jetzt verpisst euch, ehe ich sauer werde!» Carlo Tibero schwang sich auf sein Motorrad und donnerte davon.
«Starker Abgang! Ich hatte schon damit gerechnet, dass du ihm deinen Polizeiausweis unter die Nase halten würdest.» Laura stieg ebenfalls aus dem Wagen.
«Beinah hätt ich’s getan!»
«Glaubst du, es hätte ihn beeindruckt?»
«Nein, ich glaube nicht, dass den irgendwas beeindruckt.»
Auf der Reling und dem Steuerhaus der Medusa ließ sich ein Schwarm Möwen nieder, deren Schreie sich anhörten wie Gelächter.
Es war eine unangenehme Bar. Die Decke zu hoch, der Boden zu glatt, graubraun gefliest, Spielautomaten an den Wänden, Plastiktische, Plastikstühle mit dünnen Metallbeinen. Jeder Laut multiplizierte sich, hallte und mischte sich mit anderen Lauten zu undefinierbarem Lärm. Männer hingen in Grüppchen herum, nur Männer. Von vierzig bis achtzig. Die einzige Frau stand hinter dem Tresen. Sie war jung, ein bisschen zu dick. Der Ausschnitt an ihrem Pullover zeigte viel von ihren Brüsten. Es roch nach Rauch, obwohl Rauchen verboten war, wie in allen italienischen Kneipen. Der Zigarettengeruch schien aus gelben Fingern, gebeizten Lungen, ungewaschenen Kleidern zu strömen.
Die alten Männer vom Hafen waren noch nicht da, deshalb setzten Laura und Guerrini sich auf unbequeme Hocker an der Theke und warteten. Die junge Frau las in einer Zeitschrift und wandte den neuen Gästen unwillig den Kopf zu, während ihre Augen noch auf einem der Klatschberichte hafteten.
«Einen Tee, schwarz», sagte Laura.
«Ich auch.» Guerrini schob den großen Zuckerbehälter zur Seite und stützte einen Arm auf den Tresen.
«Engländer?» Die junge Frau grinste und rieb an dem goldenen Knopf in ihrem rechten Nasenflügel.
«Klar!», gab Laura zurück.
«Mit Zitrone?»
«Mit Milch.»
«Brrrrr! Wirklich Engländer!» Sie steckte eine Haarsträhne hinters Ohr und lachte.
«Lieber doch mit Zitrone!», grinste Guerrini.
«Also doch keine Engländer! Wieso trinkt ihr dann Tee? Hier trinken alle Kaffee, ganz egal, wie spät es ist. Ich hab euch hier noch nie gesehen!»
«Wir sind Touristen.»
Die junge Frau füllte siedendes Wasser aus der Kaffeemaschine in zwei große Tassen und hängte Teebeutel hinein. Dann schnitt sie Scheibchen von einer halben Zitrone und klemmte sie an den Tassenrand.
«Vorsicht, heiß!»
«Wir haben uns vorhin am Hafen mit dem Fischer Tibero unterhalten. Er sagte, dass er manchmal hierher kommt. Stimmt das? Wir würden ihn gern wiedersehen.» Guerrini streute einen halben Löffel Zucker in seinen Tee.
Sie hatte sich bereits wieder in ihre Zeitschrift vertieft und richtete sich jetzt langsam auf, dehnte die Schultern nach hinten und streckte den Busen heraus. «Ach der. Mal kommt er, mal nicht. Dann streitet er mit den anderen und spielt ein bisschen an den Maschinen.»
«Streitet?»
«Klar, wenn die hier zu diskutieren anfangen, dann ist die Hölle los. Ich hab zum Chef gesagt, dass ich Ohrenschützer brauche, wenn ich hier arbeiten soll. Manchmal ist es so laut, dass ich rausrenne. Trotzdem kommen die alle fast jeden Abend her. Wahrscheinlich sind sie taub.»
Guerrini zog den Teebeutel aus seiner Tasse und schaute sich suchend um.
«Hier!» Die junge Frau schob ihm einen kleinen Teller hin.
«Kennen Sie auch einen Ernesto Orecchio?»
Sie stemmte beide Hände in
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