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Die Stunde der Zikaden

Die Stunde der Zikaden

Titel: Die Stunde der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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Polizisten.»
    «Was machen wir jetzt?»
    «Wir bezahlen vier Cappuccini und warten ab. Später können wir ja diesem Tibero einen Besuch abstatten. Den hat Tuttoverde nicht erwähnt. Aber vorher möchte ich dir noch den schönsten etruskischen Hohlweg dieser Gegend zeigen.»
    «Auf Empfehlung von Tuttoverde?»
    «Nein, auf meine Empfehlung. Vergiss Tuttoverde!»
     
    Sie kletterten durch dichtes Unterholz, das von Schlingpflanzen überwuchert war. Den Wagen hatten sie am Straßenrand unten in der Schlucht zurückgelassen. Keuchend erreichten sie endlich eine hohe Felswand aus ockerfarbenem Sandstein und folgten einem schmalen Pfad, der unvermutet die Felsen teilte. Dunkle Wände erhoben sich links und rechts, zwanzig, dreißig Meter hoch, dämmriges grünes Licht füllte diesen höhlenartigen Weg, zarte Pflanzengespinste überzogen die Felswände, Moose und Flechten. Über ihnen schien ein schmaler Spalt Himmel auf, kaum sichtbar hinter Wurzeln und Ästen, die sich über den Hohlweg beugten. Die Luft war kalt und modrig, und doch war dieser unwirkliche Pfad, der steil nach oben führte, von so geheimnisvoller Schönheit, dass Guerrini und Laura schweigend und staunend hinaufwanderten, bis sie unvermutet wieder im Sonnenlicht ankamen.
    «Es ist wie der Aufstieg aus der Unterwelt», sagte Laura leise. «Wie haben die Etrusker das gemacht? Ich meine, wie haben sie diese Wege in den Stein gehauen?»
    «Sie haben es sich nur ausgedacht und dann machen lassen», gab Guerrini zurück. «Für die Ausführung hatten sie Sklaven. Aber bis heute weiß man nicht genau, warum sie diese enormen Hohlwege aus den Felsen schlagen ließen. Vermutlich waren es kultische Wege, so, wie du es eben empfunden hast. Aufstieg aus der Unterwelt und Abstieg in die Unterwelt. In der Schlucht gibt es viele Gräber. Vielleicht brachte man die Toten hinunter in ihr eigenes Reich, und die Lebenden stiegen durch die Hohlwege wieder ins Licht. Die Christen nannten diesen Weg später Straße des Teufels und haben Kreuze in den Sandstein gemeißelt, um die heidnischen Götter zu vertreiben.»
    «Sie haben es nicht geschafft.»
    «Wie meinst du das?»
    «Die Götter sind noch da. Man kann es ganz deutlich spüren. Ich glaube, dass nichts auf dieser Erde jemals verloren geht. Auch nicht der Geist alter Götter oder Kulturen.»
    «Eine ganz neue Erweiterung des Entropiegesetzes?»
    «Ja, meine ganz persönliche Erweiterung!»
    Eine Weile wanderten sie durch Weinberge und lichte Esskastanienwälder oberhalb der Schlucht, dann stiegen sie wieder durch die Straße des Teufels in die Unterwelt und waren erleichtert, den Lancia genau da zu finden, wo sie ihn abgestellt hatten: ein leicht zerbeultes Zeichen der Realität.

 
    CARLO TIBERO warf den Möwen gerade die letzten Fischreste zu, als Laura und Guerrini den Hafen von Portotrusco erreichten. Der Kühlwagen der Fischfabrik war bereits fort.
    «Geh du zuerst! Dir hat er letztes Mal zugezwinkert. Ich komme dann rein zufällig dazu.» Guerrini machte eine auffordernde Geste mit seinem Kinn. Langsam schlenderte Laura zur Medusa hinüber, steckte die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke und schaute den Möwen zu, wie sie wild kreischend um Brocken rauften, die Tibero in die Luft warf.
    «Gieriger Haufen, was?», grinste der Fischer und wischte seine Finger an der Hose ab. Diesmal zwinkerte er nicht.
    «Hatten Sie einen guten Fang?» Laura sah zu ihm hinauf.
    «Così, così. Wie immer.» Er stapelte ein paar fleckige Styroporkisten übereinander, rollte den Wasserschlauch auf und schien nicht an einem Gespräch interessiert. Dann verschwand er unter Deck, tauchte erst nach ein paar Minuten wieder auf und hob erstaunt die buschigen Augenbrauen, als Laura noch immer vor der Medusa am Kai stand.
    «Urlaub, was?»
    Laura nickte.
    «Langweilig hier im Oktober. Im Sommer müssen Sie kommen, Signora.»
    Laura zuckte die Achseln.
    «Ich mag den Herbst. Waren Sie schon mal auf Montecristo?»
    «Ich fahr beinah jeden Tag dran vorbei. Das ist alles.»
    «Sind Sie noch nie an Land gegangen?»
    Tibero lehnte sich an die Reling des Kutters, zog die Wollmütze vom Kopf und strich sein dichtes krauses Haar zurück.
    «Warum sollte ich dort an Land gehen, Signora? Ich fange Fische! Mit Steinen und schwarzen Springvipern kann ich nichts anfangen.»
    «Schwarze Springvipern?»
    «Ja, von denen gibt’s da jede Menge.» Jetzt zwinkerte er doch.
    Aus den Augenwinkeln nahm Laura wahr, dass Guerrini herangekommen war.
    «Buona

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