Die Stunde der Zikaden
Oberstadt. Guerrini und Laura rannten hinauf zum Tor, überquerten einen dunklen leeren Platz und entdeckten die aufgeregten Frauen in der Gasse, die entlang der Stadtmauer verlief. Sie winkten, riefen, beugten sich über etwas. Als Laura und Guerrini die beiden erreichten, wussten sie bereits, was dieses Etwas war.
Luciano Tremonti lag auf den Treppenstufen zu einem der Häuser, sein Gesicht war blutverschmiert.
«Grazie alla madonna, dass ihr uns gehört habt. Hier kommt ja keiner mehr, wenn man schreit. Es ist ja wie in einer Geisterstadt hier oben!»
Laura beugte sich über Luciano und sah die klaffende Platzwunde auf seiner Stirn, seine erschrockenen Augen.
«Er wollte sich aufsetzen, aber wir haben gesagt, dass er liegen bleiben soll. Man weiß ja nicht, welche Verletzungen er hat!»
Laura öffnete ihren Lederrucksack und zog den kleinen Verbandskasten heraus, den sie immer bei sich trug. Sie bedeckte die große Wunde mit einer Kompresse und legte mit Guerrinis Hilfe einen Verband an. Luciano sagte die ganze Zeit kein Wort und hielt die Augen geschlossen.
«Euch schickt wirklich der Himmel!», seufzte eine der Frauen und rang die Hände. «Man sollte immer Verbandszeug bei sich haben, nicht wahr, Clara. Wie ist denn das nur passiert, Signore.»
«Ich bin gefallen», sagte Luciano leise. «Könnt ihr mich nach Hause bringen? Ich wohne nur ein paar Meter weiter.»
Mit Guerrinis Hilfe setzte er sich auf und brachte sogar ein Lächeln zustande.
«Grazie, grazie tanto. Es ist wirklich schlimm, wenn ein alter Trottel wie ich über seine eigenen Beine fällt.»
Laura betrachtete sein Gesicht, sah den roten Striemen auf der linken Seite seines Schädels und dass die Platzwunde rechts war. Sie dachte: nicht gefallen, zusammengeschlagen. Unsere Schuld. Wir nehmen die Sache noch immer nicht ernst genug.
«Sollen wir nicht doch einen Krankenwagen rufen? Man kann ihn doch nicht so einfach nach Hause bringen. Vielleicht lebt er allein!» Die beiden besorgten Frauen flatterten noch immer aufgeregt herum.
«Wir werden uns um ihn kümmern. Euch hat der Himmel geschickt, Signore. Vielleicht wäre sonst niemand hier vorbeigekommen. Wir wollten nämlich gerade wieder nach unten.»
«Danken wir lieber der Madonna. Sie wird uns hier alle zusammengebracht haben.»
«Sì, grazie alla madonna!», wiederholte die Frau namens Clara und bekreuzigte sich.
Sie halfen Luciano auf die Beine, stützten ihn von beiden Seiten und gingen langsam an der Stadtmauer entlang. Hier funktionierte die Straßenbeleuchtung, die alles in gelbes Licht tauchte und ihren Gesichtern ein kränkliches Aussehen verlieh, als litten sie an Hepatitis. Es war wirklich nicht weit zu seinem Haus. Umständlich kramte er den Schlüssel aus seiner Jackentasche.
«Meine Tochter ist wahrscheinlich schon im Bett. Ich wohne bei ihr und den Enkeln. Sie ist Witwe. Besser, wenn wir leise sind. Sie muss sehr früh aufstehen.»
Er hatte Mühe, die Haustür aufzuschließen, schaffte es erst nach zwei, drei Versuchen.
«Ihr könnt jetzt gehen. Bin ja zu Hause.»
Im Flur wurde das Licht angeknipst.
«Babbo? Bist du das?»
«Ihr könnt wirklich gehen. Meine Tochter wird sich um meinen Schädel kümmern. Grazie, grazie tanto!»
«Sie sind nicht gestürzt, Luciano. Hab ich recht?» Laura stand nur eine Treppenstufe unter ihm, und er sah ein paar Sekunden lang ernst auf sie herab, drehte sich dann um und schloss die Tür hinter sich. Sie hörten noch den erschrockenen Ausruf der Tochter, dann wurde es still.
«Wir haben sie also tatsächlich aufgeschreckt.» Guerrini wusch sich die Hände an einem Brunnen, der nur wenige Meter von Lucianos Wohnung entfernt am Rand der Gasse stand. «Wieso hat hier eigentlich kein einziger Mensch aus einem Fenster geschaut, eine Tür aufgemacht oder sonst was?»
«Schau dich doch um, Angelo. Hier wohnt keiner. Alle Fensterläden sind verschlossen, nirgendwo ein Lichtschimmer. Das sind Ferienwohnungen. Es ist wirklich eine Geisterstadt.»
Auch Laura tauchte ihre Hände in das kalte Wasser des Brunnens.
«Was machen wir jetzt? Fahren wir nach Rom?»
«Vielleicht sollten wir uns lieber die Medusa genauer ansehen.»
«Nein, Angelo. Das sollten wir Tuttoverde überlassen und ihm vielleicht den entsprechenden Tipp geben, falls er ihn nicht schon hat. Außerdem bin ich sicher, dass wir beobachtet werden. Vielleicht hat uns sogar einer von denen bei unseren unzüchtigen Handlungen zugesehen. Ich denke, wir sollten nach Hause fahren
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