Die Stunde der Zikaden
Torbogen. Den losen Stein hatte er mitgenommen.
«Porca miseria!», fluchte Guerrini leise. «War ja zu erwarten. Wir führen uns auf wie Kriminalbeamte im ersten Berufsjahr! Klar hat er Angst. Wir brauchen ihn gar nicht zu fragen. Es war in der Bar schon klar. Jetzt hat er außerdem noch Angst vor uns. Bravo!»
Als Lauras Handy in diesem Augenblick brummte, trat er gegen die Mauer. Ein Stein löste sich und kollerte den Hang hinunter.
«Ja?» Sie ging ein paar Meter den Weg hinauf.
«Warum flüsterst du denn? Ich versteh dich nicht! Bist du das, Laura?»
«Ich kann gerade nicht laut reden, Vater.»
«Schläft jemand?»
«Nein, aber es geht nicht! Was gibt’s denn so spät?»
«Spät … von wegen! Es ist kurz vor zehn. Seid ihr etwa schon im Bett?»
«Nein, Vater.»
«Was dann? Ach, es geht mich ja nichts an. Ich wollte dir nur sagen, dass Fernando mich angerufen hat. Angelos Vater! Hast du mich verstanden?»
«Ja.»
«Er hat sich bei mir über Angelo beschwert, weil der angeblich hinter ihm herspioniert und über seine Geschäfte ausfragt. Er hat sich richtig aufgeregt, Laura. Was ist denn da los? Ich dachte, ihr macht Urlaub!»
«Ja.»
«Was, ja?»
«Wir machen Urlaub.»
«Aber nicht nur, oder?»
«Nein, nicht nur.»
«Wieso? Ich frage dich, wieso? Könnt ihr es nicht miteinander aushalten ohne irgendwelche Ermittlungen? Ist euch das zu langweilig? Deiner Mutter und mir war nie langweilig, wenn wir Urlaub machten!»
«Du hast nur jedes Mal irgendwelche Gerichtsakten mit in den Urlaub genommen.»
«Die hab ich gelesen, während deine Mutter in ihre Romane oder Zeitungen vertieft war.»
«Gut, uns ist auch nicht langweilig!»
«Warum lasst ihr dann Fernando nicht in Ruhe?»
«Ich habe keine Ahnung, was Angelo und sein Vater miteinander geredet haben.»
«Vielleicht solltest du ihn fragen!»
«Warum bist du eigentlich so ärgerlich, babbo?»
«Weil ich unklare Konflikte hasse. Weil ich Fernando mag, und weil ich mir wünsche, dass es euch gut geht!»
«Okay.»
«Was soll das heißen?»
«Es soll heißen, dass ich dich verstehe.»
«Na gut. Weißt du eigentlich, dass die Hälfte deines Urlaubs schon vorbei ist? Vergeudet die Zeit nicht, Laura! Carpe diem!»
«Nein, babbo. Wir vergeuden sie nicht.»
«Na gut, dann schlaf gut!»
«Du auch, babbo.»
«Ist wirklich alles in Ordnung, Laura?»
«Wirklich.»
«Dann gute Nacht.»
«Gute Nacht.»
Laura steckte das Telefon in ihre Lederjacke und schaute zu Guerrini hinüber, der noch immer an der Mauer lehnte und aufs Meer schaute.
Vergeuden wir unsere Zeit? Vielleicht. Aber vielleicht leben wir einfach so, wie es für uns richtig ist. Langsam kehrte sie zu Guerrini zurück, stellte sich neben ihn und legte einen Arm um seine Hüfte. Kühler salziger Wind wehte vom Meer und ließ sie frösteln.
«Und?»
«Mein Vater wollte wissen, ob wir unsere Zeit vergeuden.»
«Vero?»
«Vero.»
«Was hast du geantwortet?»
«Dass wir sie nicht vergeuden.»
«Nein, wir vergeuden sie nicht», murmelte er, zog sie an sich und drängte ein Bein zwischen ihre Schenkel. «Ich begehre dich so sehr, dass ich sogar in diesem Horrorbett Lust bekommen habe.»
Er presste sie gegen die Mauer, öffnete den Gürtel ihrer Jeans. Heiße Wellen liefen durch Lauras Körper, und sie schrie leise auf, als er in sie eindrang.
Später standen sie nebeneinander und schauten aufgelöst und zerzaust aufs Meer hinaus. Sie folgten mit den Augen dem Lichtstrahl des Leuchtturms, bis er kurz ihre Gesichter streifte, und versuchten in diesen Sekunden die Gefühle des anderen zu erkennen. Plötzlich fuhren sie auf, denn von der Unterstadt her kamen zwei Frauen den Weg herauf.
«Glück gehabt», flüsterte Guerrini in Lauras Ohr. «Stell dir vor, die hätten uns beobachtet und die Polizei gerufen. Kannst du dir die Gesichter der Kollegen vorstellen? Zwei Kommissare bei unzüchtigen Handlungen in der Öffentlichkeit überrascht. Wie, um Himmels willen, sollen wir das handhaben, Capitano?»
Die beiden Frauen gingen an ihnen vorüber und grüßten freundlich. Sie waren um die sechzig, und eine hatte die andere untergehakt «Una bellissima notte», sagten sie gleichzeitig und mussten lachen.
«Sì, bellissima!», stimmten Laura und Guerrini zu.
Die Frauen gingen weiter, drehten sich noch zweimal um, als ahnten sie plötzlich etwas. Doch wie Luciano verschwanden sie schließlich unter dem alten Torbogen.
Kaum zwei, drei Minuten später gellten Schreie durch die
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