Die Stunde des Fremden
er sie bei der Hand und führte sie durch die Pforte in die Kapelle.
Das Gras unter den uralten Olivenbäumen war grün und weich, und von der Stelle aus, an der sie später saßen, konnten sie durch ein Gitter und ein Loch in der alten Mauer den Hügel hinab auf die tief unten im Sonnenlicht glitzernde Bucht sehen. Die Luft unter den dichten Blättern summte von Insekten.
Rossana legte sich in das warme Gras, den Kopf auf die Hände gestützt. Ashley saß neben ihr, die Arme um die Knie geschlungen, geistesabwesend und beinah ängstlich der Eröffnung entgegensehend, die unfehlbar kommen mußte.
Sie versuchten, über die alten Tage in Rom zu sprechen. Doch die alten Tage waren wie alte Küsse – kalt und schmerzhaft in der Erinnerung. So schwiegen sie und ließen die Wärme in sich eindringen, zufrieden mit ihrer Gegenwart und der trauervollen Erinnerung an das verlorene Paradies – halb bitter und halb süß.
Nach langem Schweigen sah Ashley auf sie hinunter.
»Rossana, ich muß dir etwas gestehen«, sagte er leise.
»Sag es, Richard.« Ihre Stimme war schläfrig und zufrieden.
»Die letzten sechs Monate arbeite ich an einer Geschichte über deinen Mann – einer Geschichte, die ihn mit großer Wahrscheinlichkeit ruinieren wird. Was du heute in der Halle gesehen hast, gehörte dazu.«
»Ich weiß, Richard.«
»Was?« Er setzte sich steil auf und musterte sie mit zusammengezogenen Brauen. Sie lag still und zufrieden da und lächelte ihn an.
»Ich weiß, mein Lieber. Auch mein Mann weiß es. Deswegen kommt er heute hierher. Deswegen hat er Elena geschickt.«
»Wer ist Elena?«
Sie lachte leise.
»Seine Sekretärin – und seine Geliebte natürlich. Attraktiv, nicht wahr?«
»Doch, durchaus.« Er sah weg von ihr, durch das Loch in der zerfallenen Mauer, auf den schmalen Ausschnitt von See und Himmel zwischen den rostigen Gitterstangen. Was sollte er jetzt sagen? In welche Worte sollte er die Frage kleiden, die, einmal gestellt, alles zerstören konnte? Sogar das kurze Glück der letzten Stunde!
»Ich werde sie beantworten, caro mio.«
»Was wirst du beantworten?«
»Die nächste Frage. Warum bin ich hier?«
»Nun …«
Sie setzte sich auf, legte ihren Arm um seine Schultern und sah ihn voll an.
»Ich bin hier, weil mein Mann es wollte. Die Wahlen stehen vor der Tür. Ein gewisser Schein muß gewahrt bleiben. Ich bin vorausgefahren, weil ich wußte, du würdest hier sein, und weil ich diese – diese kurze Stunde mit dir für mich haben wollte.«
»Und das ist alles?«
»Was sollte sonst noch sein, Richard?«
»Nur eins: was soll ich mit meiner Reportage machen?«
»Was willst du damit machen, caro? «
»Veröffentlichen.«
»Dann veröffentliche sie, mein Lieber. Es beunruhigt mich nicht im geringsten.« Sie küßte ihn und zog ihn zu sich hinunter auf das warme, zertretene Gras. Und als es Zeit zum Gehen war, fühlte er sich glücklicher als jemals in den vergangenen zehn Jahren, die voll Ehrgeiz gewesen waren.
Die Zikaden waren verstummt, und die erste sanfte Abendbrise raschelte in den grauen Blättern, als Ashley den Wagen rückwärts auf die Straße fuhr, die sich in vielen Kurven hinab nach Sorrent wand. Sie war jetzt ganz leer. Die Nachmittagsausflügler waren längst zu Haus. Und weil sich Ashley schon verspätet hatte, weil er entspannt war und glücklich, weil Kraft in seinen Händen war und Macht unter seinen Füßen, fuhr er schnell und riskant. Mit kreischenden Reifen zog er den Wagen um die Kurven. Vor der letzten Spitzkehre bremste er ein wenig, und der Wagen schwang in eine lange Gerade hinein, auf deren einer Seite ein steiler, mit uralten Olivenbäumen bestandener Hang nach oben führte, während die andere Seite jäh zur See abfiel. Er trat den Gashebel durch, und der Isotta schoß vorwärts.
Plötzlich schrie Rossana auf: Direkt vor ihnen stand ein Mann, gefährlich schwankend, auf dem Steilhang über der Straße.
Ashley trat auf die Bremse.
Im gleichen Augenblick schien es, als spränge der Mann auf die Straße, direkt vor ihren Kühler. Die Reifen kreischten, die Räder blockierten. Zu spät! Die Stoßstange erfasste ihn, stieß ihn vorwärts. Sie spürten den Ruck, als der Wagen ihn überfuhr und ihn dann wie eine Gliederpuppe über den Schotter rollte.
Verzweifelt kämpfte Ashley, um den Wagen auf der Straße zu halten. Fünfzig Meter weiter brachte er ihn zum Stehen. Er sprang heraus, ließ die zusammengesunkene, schluchzende Rossana zurück und rannte zu
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