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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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dem blutigen Bündel, das mitten auf der Fahrbahn lag. Als er es umdrehte, erkannte er Enzo Garofano.

3
    Es war totenstill. Kein Vogel sang, und auch die schrillen Zikaden schwiegen. Die Stadt unten im Tal und das Meer waren zur Kulisse geworden. Die grauen Olivenbäume schienen Alpträumen entsprungen zu sein, die Gestalt auf der Straßenmitte und der Mann, der sich darüber beugte, waren bewegungslose Marionetten, die darauf warteten, von den Fäden, an denen sie hingen, zum Leben erweckt zu werden.
    Dann kam die Abendbrise zurück. Die Blätter raschelten, die Zweige knarrten, und Richard Ashley beugte sich weit über die Leiche von Enzo Garofano.
    Der Italiener lag auf dem Rücken, den Hals verdreht, die Glieder in grotesken Winkeln zu seinem Körper. Die Brust war eingedrückt, das Gesicht zerfetzt und blutig, eine dunkle Lache breitete sich um ihn aus und tränkte die staubigen, zerrissenen Kleider. Zwanzig Meter weiter zurück lagen Garofanos Hut und seine Aktentasche am Straßenrand.
    Ashley blickte nach oben. Die Straßeneinfassung stieg drei, vier Meter senkrecht auf, und oben sah man die Äste der alten Olivenbäume in den Himmel ragen. Vor einer Minute hatte Garofano dort schwankend am Rand gestanden.
    Kein Fußweg führte hinauf. Es war eine private Besitzung, niemand hatte dort etwas zu suchen. Die Steilwand trug die Spuren der Spitzhacken von Straßenarbeitern, doch war sie zu steil und zu glatt, als daß ein Mann sie hätte erklimmen können. Auch war Garofano weder gegangen noch geklettert. Er hatte dagestanden, schwankend, als ob … als ob irgend jemand ihn an den Rand und unter die Räder des heranrasenden Wagens gestoßen hätte.
    Ashley wurde übel. Zitternd richtete er sich auf und ging langsam weiter, um Tasche und Hut zu holen.
    Der Hut war staubig und voller Flecken. Mechanisch rieb er ihn an seinem Ärmel, um ihn zu säubern. Die Aktentasche war unbeschädigt, der Reißverschluss geschlossen; als er ihn öffnete, fand er, daß die Tasche leer war.
    Ashley sah nach oben, um sich die Stelle zu merken, von der Garofano gekommen war. Ein großer alter Baum mit einem dicken Stamm und seltsam verrenkten Ästen stand dort inmitten einer Gruppe kleinerer Bäume. Die Polizei würde das wissen wollen. Die Polizei würde hierher kommen wollen, um nach Spuren zu suchen. Spuren der Männer, die den schäbigen kleinen Gauner mit dem Mäusegesicht und den erschrockenen Augen umgebracht hatten.
    Dann, plötzlich, durchfuhr es ihn.
    Der Mann, der Enzo Garofano getötet hatte, war er selbst – er, Richard Ashley. Er hatte gedroht, es zu tun – er hatte vor Zeugen gedroht. Und er hatte es getan. Keine drei Stunden später hatte er es getan. Es war ein Unglück, gewiß, doch gab es nur eine Zeugin dafür, wie es wirklich geschah. Und die Aussage dieser Zeugin würde als befangen abgelehnt werden, weil die Frau seine Geliebte war und … eine Ehebrecherin.
    Oder war sie womöglich sogar eine Komplicin bei einem Mord? So schrecklich der Gedanke war – es gelang ihm nicht, sich seiner Logik zu entziehen. Wer sonst hatte gewußt, welchen Weg sie kommen würden? Wer anders als sie hatte den Weg gewählt … ›auf den Berg. Es ist einsam dort‹? Wie, wenn nicht von ihr, hätten sie es erfahren sollen – die Männer, die Garofano an diesen Punkt gebracht und in sein Verderben gestoßen hatten?
    Doch hatte sie nicht vor Entsetzen aufgeschrien? Und saß sie nicht jetzt zusammengesunken und schluchzend im Wagen? Sie konnte das nicht erwartet haben. Nun – das war auch nicht nötig. Sie hatte nur zu tun, was von ihr verlangt wurde: Ashley zu treffen, mit ihm auf den Berg zu fahren, ihn eine Weile dort aufzuhalten. Den Rest würden andere besorgen. Das Motiv? Ihren Mann zu schützen und das Vermögen zu retten, um dessentwillen sie ihn schließlich geheiratet hatte. Aber das Vorspiel? Die Liebe unter den Olivenbäumen, die wiedererlebten Erinnerungen, die Zärtlichkeiten und die Küsse? Rossana hatte sie ihm auch schon früher gegeben, in den alten Tagen – und sich dann doch für Orgagna entschieden. Wenn damals, warum nicht auch jetzt, wo es um soviel mehr ging? Was konnte tröstlicher sein als ein Titel und ein Bankkonto?
    Es drehte sich ihm der Kopf. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Gegen die grauen Felsen gelehnt, übergab er sich schmerzhaft. Der Anfall ging vorüber. Er trocknete sein Gesicht ab, nahm den Hut und Aktentasche und ging die Straße zurück zum Wagen. Bei dem Toten blieb er

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