Die Stunde des Fremden
nächsten Sekunde schien er … schien er in die Luft zu springen. Direkt vor unsere Räder. Ich trat sofort auf die Bremse, erwischte ihn aber mit der Stoßstange, und wir überfuhren ihn. Ich hielt an, lief zurück und stellte fest, daß er tot war. Dann stieß ich mit dem Wagen zurück, lud den Toten auf und brachte ihn hierher. Und … und das ist alles.«
Der Inspektor runzelte die Stirn. Sein freundlicher Blick umwölkte sich, und seine kurzen Finger trommelten auf den Schreibtisch. Der sanfte Strom seiner Fragen war versiegt. Nachdenklich sah er zur Decke.
»Die Umstände, wie Sie sie beschreiben, sind – jäh, ziemlich ungewöhnlich«, sagte er dann.
»Allerdings.«
Der Inspektor warf einen schnellen Blick auf Ashley. »Kam Ihnen das gleich so vor? Das heißt, im Augenblick, als es passierte?«
»Im Augenblick, als es passierte – nein. Da war ich vollkommen damit beschäftigt, den Unfall zu vermeiden. Ich hatte gar keine Zeit, an etwas anderes zu denken.«
»Aber danach?«
»Als ich zurückging, sah ich an der Straßeneinfassung hoch. Ich entdeckte, daß es sich um ein Privatgrundstück handelt. Es führt kein Weg hinauf. Auch kann man nicht hinaufklettern. Ich fragte mich einigermaßen verwundert, wie der Mann dort wohl hingekommen sein mochte, was er so dicht am Rand der Straßeneinfassung tat und wieso er heruntergefallen sein konnte.«
»Bot sich Ihnen irgendeine Antwort auf diese Fragen an?«
Ashley hob müde die Schultern. Sein Kopf summte. Allmählich spürte er die Nachwirkungen des Schocks.
»Nein. Überdies hatte ich an vielerlei anderes zu denken. Garofano war tot. Mein Ratespiel würde ihm nicht ins Leben zurückhelfen.«
»Garofano?« Wie eine Katze sprang der Inspektor auf das Wort an. »Sie kennen den Mann also?«
Ashley legte die Hände auf den Schreibtisch, um ihr Zittern zu verhindern. Das war sein erster Fehler gewesen. Doch war er nicht mehr ungeschehen zu machen.
»Ich kenne ihn. Von einer geschäftlichen Angelegenheit her«, versuchte er möglichst beiläufig zu sagen.
»Was für eine Art Geschäft war das?«
»Er verkaufte mir gelegentlich gewisse Informationen.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen? Wann vor dem Unfall?«
»Heute nachmittag um vier Uhr dreißig im ›Caravino‹.«
»Kurz bevor Sie mit Ihrer Hoheit wegfuhren?«
»Jawohl.«
Inspektor Granforte warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Es war Viertel vor acht. Höchste Zeit für das Abendessen. Und viel zu spät zum Arbeiten. Er hätte dem lederhäutigen Amerikaner noch viele Fragen zu stellen gehabt, doch war jetzt keine Zeit dafür. Ihm schien, er sollte zunächst einmal ein paar Zusammenhänge klären: Inwieweit waren die Herzogin von Orgagna und ihr Mann in die Angelegenheit verwickelt? Welche Rolle spielte dieser Amerikaner in dem höchst seltsamen Dreieck? Wer war Garofano, und welche Art Informationen hatte er einem ausländischen Journalisten verkauft?
Wie war er an den Rand dieser Straßeneinfassung, und wie war er von dort zu Fall gekommen?
Jede einzelne dieser Fragen schien geeignet, ihn in gefährliche Wasser zu führen. Er wollte lieber seine eigenen Recherchen anstellen, ehe er sich weiter vorwagte. Wie leicht konnte in so einem Fall ein ehrgeiziger Beamter auf seinem Weg in die große Welt auf Sandbänke oder Treibsand auflaufen!
Granforte stützte das Kinn auf seine Hand und lächelte Ashley über den Schreibtisch an.
»Sie haben einen schlimmen Nachmittag hinter sich.«
»So kann man es nennen.«
»Ich nehme an, Sie bleiben ein paar Tage in Sorrent?«
»Ja.«
»Jedenfalls werden Sie nicht verreisen, ohne uns von Ihrem Aufbruch in Kenntnis zu setzen?«
»In Ordnung!«
»Dann erlauben Sie mir bitte, Ihnen einen Kognak anzubieten, bevor wir beide essen gehen.«
»Danke sehr. Einen Kognak kann ich brauchen.«
Sie erhoben sich gleichzeitig. In der schäbigen, von Fliegen summenden Polizeistation trank Richard Ashley einen Kognak mit dem Mann, der wohl bald die Schlinge um seinen Hals legen mochte. Inspektor Eduardo Granforte lächelte und lächelte und sprach über Frauen. Dies war ein Thema, über das er sich nicht genug verbreiten konnte.
Zwanzig Minuten später ging Ashley zum Hotel ›Caravino‹ zurück. Er machte an der Portiersloge halt, um seine Schlüssel und sein Manuskript aus dem Safe zu holen und eine Flasche Whisky auf sein Zimmer zu bestellen.
Der Portier sah ihn merkwürdig an, sagte aber nichts. Auf dem Weg zum Fahrstuhl warf Ashley einen Blick
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