Die Stunde des Fremden
deren Schutz die Korruption wie Unkraut wucherte. Aber es gehörte mehr als die Wahrheit dazu, einen Mann zwanzig Jahre lang bei der Stange zu halten, seine Neugier nicht einschlafen zu lassen und seine Leidenschaft und seinen Ehrgeiz wach zu halten.
Seine Eitelkeit mußte mit Schlagzeilen und Spezialaufträgen gefüttert werden. Und sein Stolz brauchte die größte aller Illusionen: daß ein Mann, der die Nachrichten aufzeichnet, die Nachrichten macht. Er braucht mitunter das bequeme Leben der Leute, über deren Leben er berichtet, deren Leben er aber niemals wirklich teilt. Und mehr als alles andere braucht er eine Aufgabe: die große Reportage. Als ob der Sturz einer Regierung oder die Umbesetzung eines Ministeriums für die Menschheit wichtiger wäre als die Geburt eines Kindes oder das Sterbegebet eines Greises!
Es war ein trostloser Gedanke, und so verbannte Ashley ihn aus seinem Gehirn. Als Vierzigjähriger hatte er sich der strahlenden Illusion zu lange verschrieben. Er war zu alt, um umkehren zu können. Er mußte den Weg zu Ende gehen. Er mußte nach den Früchten greifen, obwohl er wußte, daß sie, wie die Äpfel von Sodom, in seinem Munde zu Staub zerfallen würden.
Er sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis zum Dinner. Zeit für ein zweites Glas – ein Glas auf den krummen Weg.
4
Orgagnas Dinner-Party war so intim wie ein Presse-Empfang und ebenso sorgsam arrangiert. Auf Ashleys Klopfen öffnete ein Oberkellner und führte ihn in einen Raum, der halb so groß war wie ein Ballsaal – mit einem gewaltigen Kristall-Kronleuchter und einem grandiosen Ausblick über die Bucht auf die Lichter von Neapel und die grellen Leuchtfeuer der Gaswerke bei Pugliano.
Unter dem riesigen Aussichtsfenster war eine lange Tafel gedeckt, und ein befrackter Maître de salle kommandierte zwei Kellner flüsternd zwischen einer Batterie silberner Platten herum. Anwesend waren Orgagna, Harlequin, die blonde Sekretärin namens Elena und ihr seltsamer junger Begleiter, den Ashley schon in der Bar gesehen hatte.
Auch Rossana war da und kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen – nicht die windzerzauste Schönheit des nachmittäglichen Abenteuers, sondern die Herrin eines herzoglichen Salons, in Gold gefaßt, mit einem maskenhaften Lächeln. Nur ihre Augen verrieten leisen Spott.
»Mein lieber Richard! Wie nett, daß du gekommen bist.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Rossana.« Er beugte sich über ihre Hand und berührte sie mit den Lippen, während sie matt und gefühllos in der seinen lag. Dann trat Orgagna zu ihnen. Groß, mit einem Adlerprofil, grauen Augen, grauem Haar und dem überlegenen Charme des Weltmannes.
»Herr Ashley! Ich glaube, wir kennen uns – beruflich. Ich freue mich, daß Sie kommen konnten. Ich bin tief in Ihrer Schuld.«
»Hoheit übertreiben«, sagte Ashley kühl. Wenn sie es so haben wollten: eine Komödie mit den Manieren der alten Welt – er würde mitspielen.
Orgagna nahm seinen Arm und führte ihn zu den anderen Gästen.
»Harlequin, Sie haben sich schon kennen gelernt.«
»Wiederholt.«
Harlequin musterte ihn mit blassen, abschätzenden Augen.
»Ich habe von Ihrem Unfall gehört, Ashley. Tut mir leid.«
»Nicht mehr zu ändern.« Ashley hob die Schultern und ließ sich weiter zu Elena Carrese führen und zu dem großen, dünnen Jüngling, der neben ihr stand. Ihr Anblick erschreckte ihn. Der Schein selbstverständlichen, wenn auch leeren Charmes war von ihr abgefallen. Ihre Augen sprühten Hass. Alle Sorgfalt, die sie auf ihr Make-up verwendet hatte, konnte nicht verbergen, daß sie geweint hatte. Die Hand, mit der sie das Glas hielt, zitterte.
»Meine Sekretärin, Elena Carrese.«
»Signorina.«
»Tullio Riccioli, einer der vielversprechendsten Künstler Roms.«
»Signore.«
Der junge Mann reichte ihm eine weiche Hand und wandte sich wieder Elena Carrese zu. Orgagna steuerte seinen Gast zu Rossana und Harlequin zurück. Ein Kellner brachte ihm einen Champagner-Cocktail, und sie begannen, sich durch die verschlungenen Maschen einer höflichen Unterhaltung einen Weg zu dem Gegenstand zu bahnen, der ihnen allen am Herzen lag.
Ashley eröffnete das Gefecht mit einer simplen Feststellung:
»Ich habe den Wagen zurückgebracht. Die Polizei war so freundlich, ihn zu waschen. Die Schlüssel liegen beim Portier.«
»Sie haben sehr umsichtig gehandelt, Herr Ashley«, sagte Orgagna warm. »Meiner Frau die Unannehmlichkeiten einer polizeilichen Vernehmung zu ersparen war eine
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