Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
Vom Netzwerk:
Inspektor wird mich wahrscheinlich noch einmal sprechen wollen. Das ist alles.«
    »Sehr gut«, sagte sie mit kühler Höflichkeit, »das freut mich sehr – ah, Richard?«
    »Ja?«
    »Mein Mann ist dir sehr dankbar für die Art, wie du die Angelegenheit bisher gehandhabt hast. Er würde sich freuen, wenn du uns das Vergnügen machen würdest, mit uns zu essen.«
    »Ist das die Möglichkeit!« rief Ashley, ehrlich verblüfft.
    »Das freut mich sehr«, sagte Rossana, »sagen wir also in zwanzig Minuten?«
    »O ja … gewiß.«
    »Dann können wir dir beide noch einmal danken. Arrivederci!« Es knackte im Hörer, und Ashley saß da und starrte sprachlos auf den Apparat. Dann legte er den Hörer vorsichtig auf die Gabel zurück, trat zum Balkon hinaus und sah auf das mondbeschienene Meer.
    Die See war ruhig – die Nacht warm und windstill. Und doch schauderte er zusammen, als wäre jemand über sein Grab gegangen. Noch war er nicht tot, selbstverständlich, aber die Totengräber hatten schon mit ihrer Arbeit begonnen.
    Der Gedanke an den Tod erinnerte Ashley an Enzo Garofano, der heute schon tot war und morgen beerdigt und vergessen sein würde. Er war ein ängstlicher, gehetzter Bursche auf der Jagd nach einem schnellen Gewinn gewesen. Und doch hätte er beinahe eine Regierung gestürzt und Europas Politiker in einen aufgescheuchten Bienenschwarm verwandelt. Und das nur, weil er irgendwie an sechs Photokopien herangekommen war. Photokopien von Privatbriefen, die Orgagna an Geschäftsfreunde und politische Mittelsmänner gerichtet hatte.
    Wie war ihm das möglich gewesen? Schon bei der ersten Begegnung hatte ihn Ashley das gefragt, doch hatte Garofano nur ausweichend geantwortet. Er habe eben Verbindungen. Verbindungen zum Mitarbeiterstab des bedeutenden Mannes. Und diese Verbindungen hatten es ihm auch ermöglicht, die Originalbriefe in die Hände zu bekommen, sie Ashley zu zeigen, sie zu photographieren und schließlich wieder in Orgagnas Archiv zurückzugeben.
    Ashley hatte diese Erklärung als die einzig mögliche akzeptiert. Die Umstände hatten ihn weniger interessiert als die Dokumente selbst. Dokumente, die vollkommen schlüssig bewiesen, daß zwei Millionen Dollar aus einer Regierungsanleihe für die Textilindustrie im Süden Italiens durch betrügerische Manipulationen den Unternehmungen Orgagnas im Norden zugeflossen waren.
    Inzwischen hatten nun diese Umstände lebenswichtige Bedeutung gewonnen: Garofano hatte Ashley zunächst in Neapel aufgesucht und das Treffen in Sorrent verabredet. Er hatte die Originalbriefe vorgewiesen, damit Ashley sich von ihrer Echtheit überzeugen konnte. Es war unwahrscheinlich, daß er die Dokumente in Rom bekommen hatte. Viel eher stammten sie aus dem Archiv des Sommersitzes. Garofanos Verbindungsmann mußte demgemäß zu dem hiesigen Haushalt gehören oder mindestens auch hier Zugang haben.
    Was konnte also die Grundlage der Verbindung zwischen dem unbekannten Kontaktmann und Enzo Garofano gewesen sein? Wenn es sich um einen Mann handelte, dürfte das Motiv ›Profit‹ stimmen. Auch im Fall einer Frau konnte es Profit sein, aber ebensogut etwas anderes … Liebe, Eifersucht, Rache. Nach Garofanos Tod konnte von Profit nicht mehr die Rede sein, daher …
     … daher mußt du die Verbindung finden, Richard Ashley, sie kann dich wieder ins Geschäft bringen. Schließlich warten noch immer zweitausend Dollar beim American Express – ein guter Köder, auch für einen großen Fisch, wenn man ihn nur in das richtige Gewässer hält.
    Wieder starrte er über das ruhige Meer, auf die Lichter der Fischerboote weit draußen, und stellte sich eine neue Frage: Warum tat er das alles? Warum mußte er sich mit vierzig Jahren noch immer im Namen der Wahrheit mit solchen schäbigen Intrigen herumschlagen?
    Romantiker mochten den Journalismus als einen edlen Beruf glorifizieren. Zyniker nannten ihn eine traurige Spekulation auf die Schlechtigkeit der Welt. Idealisten mochten sich für Apostel halten. Die Nachrichten-Jäger profitierten von der hektischen Neugier von Millionen. Und doch, mochte er nun Leitartikler oder Sensationsschreiber sein, der Journalist verfügt nun einmal über einen Kanal, durch den, rein oder verfälscht, Tag für Tag die Wahrheit in die Köpfe von Millionen Menschen in der ganzen Welt drang.
    Es war nicht die ganze Wahrheit. Es konnte niemals die ganze Wahrheit sein. Abe r selbst ein Teil der Wahrheit war besser als die Verschwörung des Schweigens, unter

Weitere Kostenlose Bücher