Die Stunde des Fremden
in die Bar. Sie war voller Gäste, die vor dem Essen noch rasch einen Aperitif tranken. In einer Ecke entdeckte er Elena Carrese, ganz versunken in eine Unterhaltung mit einem dünnen, glattrasierten Jüngling in einer Haifischlederjacke. Von Rossana keine Spur.
Der Fahrstuhl kam herunter, spuckte eine Gruppe von Damen in trägerlosen Abendkleidern und Herren im Tropenfrack aus, bei deren Anblick sich Ashley schäbig und zerknittert vorkam.
Auf der Fahrt zum dritten Stock überlegte er, ob er versuchen sollte, Rossana anzurufen und sie vom Verlauf des Polizeiverhörs in Kenntnis zu setzen. Er entschied sich dagegen. Es war sicherer, ihr den nächsten Schritt zu überlassen. Der Tag hatte gezeigt, daß sie ein größeres Talent für Intrigen besaß, als er geahnt hatte.
In seinem Appartement ließ er sich ein heißes Bad einlaufen, zog sich aus und stieg in das dampfende Wasser. Sein Körper ächzte, als hätte man ihn mit Ruten geschlagen. Allmählich verließ ihn die Spannung; er lag ausgestreckt in der Wanne und zog die Bilanz seines vierzigsten Geburtstags.
Es war ein totaler Verlust!
Die Reportage seines Lebens war zum Teufel gegangen, weil Garofano ihn um die Photokopien betrogen hatte. Die Frau, die er liebte, hatte ihn verraten und lächelnd in eine Falle gelockt. Er hatte einen Mann umgebracht, weil er wie ein betrunkener Idiot gefahren war. Er mußte jeden Augenblick mit einer Anklage wegen Totschlags, ja vielleicht sogar wegen Mords rechnen.
Inzwischen würde seine Darstellung des Unfalls die Runde durch die Stadt machen. Schon jetzt war sein Streit mit Garofano Klatschthema Nummer eins unter dem Hotelpersonal. Nur allzu rasch würde die Geschichte dem mondgesichtigen Inspektor zu Ohren kommen. Und dann würde es erst richtig losgehen.
Verhaftung, vielleicht Untersuchungsgefängnis. Das italienische Recht unterstellt automatisch die Schuld des Kraftfahrers. Das langsame, spitzfindige italienische Rechtsverfahren …
Auf jeden Fall würden sie die Sache bis über die Wahlen hinaus in die Länge ziehen, ehe sie ihn schließlich mit einem höchst zweifelhaften Urteil – möglicherweise mangels Beweis – freilassen würden. Inzwischen würde Orgagna seinen Ministerposten und Ashleys Büro in Rom ein höfliches Ersuchen von der amerikanischen Botschaft bekommen haben, ihn als persona non grata aus Italien in ein anderes Land zu versetzen. Alles war sauber und überaus wirkungsvoll arrangiert. Und der Regisseur der Komödie war Vittorio, Herzog von Orgagna.
Der Gedanke an Orgagna nötigte Ashley Respekt, ja sogar eine gewisse Bewunderung ab. Es gehörte schon eine bemerkenswerte Art Mut dazu, monatelang zuzusehen, wie jemand Material gegen einen selbst zusammentrug, ohne das geringste dagegen zu unternehmen. Man mußte das Herz eines Spielers haben, dem Anklagevertreter immer neues Material zuzuschanzen und ihm schließlich die schlüssigen Beweise so vor die Nase zu halten, daß er in sein eigenes Verderben stürzt, wenn er die Hand danach ausstreckt.
Genau das hatte Orgagna getan. Doch es gehörte mehr dazu als Nerven und Mut. Er verfügte über Raffinesse und Routine – über tausendfältige Erfahrung in diplomatischen Intrigen. Sorgfältig hatte er seine Figuren um den weißen König aufmarschieren lassen, bis die schwarzen Bauern ihn schachmatt setzten: Rossana, Elena Carrese, George Harlequin und Inspektor Granforte. Sogar als Opfer mußte man eine Art bittere Hochachtung vor soviel technischer Vollendung empfinden.
Ashley stieg aus der Wanne, frottierte sich ab und rasierte sich sorgfältig. Er kleidete sich mit besonderer Aufmerksamkeit an und brauchte allein für seine Smokingschleife Minuten. Während er an ihr herumzupfte, grinste er sich unglücklich im Spiegel an. Wenn man schon zu seiner eigenen Beerdigung ging, sollte man sich wenigstens anständig anziehen.
Es klopfe. Ashley rief: »Avanti!«, und ein Kellner brachte den Whisky mit Gläsern und einen silbernen Kübel mit Eiswürfeln. Ashley zeichnete die Rechnung ab, gab dem Kellner hundert Lire Trinkgeld und schob ihn aus der Tür. Dann goß er sich ein großes Glas ein, setzte sich in den Sessel am Balkonfenster und wandte sich wieder seinem Problem zu.
Das Telephon klingelte.
»Pronto! Richard Ashley am Apparat«, sagte er langsam.
»Richard?« Es war Rossanas Stimme, vorsichtig, beherrscht, neutral. »Hier spricht Rossana. Wie ist es dir bei der Polizei ergangen?«
»Recht gut, soweit. Ich habe meine Aussage gemacht. Der
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