Die Stunde des Fremden
unkompliziert.«
»Zu einfach, Rossana.«
»Aber wieso denn, Richard?«
Wieso? Die Wahrheit lag ihm auf der Zunge: Weil es mich zum Mörder macht und deinen teuren Ehemann frei ausgehen läßt. Weil meine einzige Hoffnung – und bei Gott eine kleine Hoffnung – darin besteht, daß Inspektor Granforte den Boden am Unfallort nach Kampfspuren untersuchen läßt. Weil … Doch er sagte es nicht. Statt dessen erklärte er geduldig:
»In jedem Land macht man sich strafbar, wenn man auf einer schnurgeraden, kilometerlangen, freien Straße einen Menschen überfährt. Besonders bei großem Tempo. In Italien wäre sogar eine Anzeige wegen Totschlags möglich. Es ist für uns beide besser«, er verweilte einen Augenblick bei dem ›beide‹, »wenn wir das vermeiden können.«
In Harlequins blassen Augen leuchtete ein leises Interesse auf. Orgagna sah nachdenklich aus. Schließlich nickte er.
»Herr Ashley hat selbstverständlich recht, Rossana. Man sollte niemals von der Wahrheit abweichen, auch wenn es noch so bequem erscheint.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Ashley.
Es entstand eine Pause, als wäre ein kühler Wind durch den Raum gestrichen, ein Wind, der die glatte Oberfläche der Konversation beunruhigte und das Gewirr von Motiven und Gegenmotiven nach oben brachte.
Dann hatte Orgagna die Lage wieder in der Hand. Er gab dem Maître de salle ein Zeichen, und unverzüglich wurde mit dem Dinner begonnen. Die Kellner geleiteten jeden zu seinem Stuhl. Orgagna an das Kopfende, Rossana ihm gegenüber. Ashley und Harlequin saßen nebeneinander, ebenso wie Elena Carrese und der junge Künstler, die den Rücken dem Fenster zugewandt hatten.
Wein wurde eingegossen, die Speisen wurden gereicht, und die Anwesenden wirkten wieder wie irgendeine ganz gewöhnliche Gesellschaft reicher Globetrotter, die sich im Land der Sirenen unterhielten. Harlequin begann eine Unterhaltung mit Tullio, und Orgagna plauderte über römische Ausstellungen und Tendenzen in der modernen Malerei. Ashley blieb die undankbare Aufgabe, eine frühere Geliebte zu unterhalten, und dazu außerdem die Frau, die sie im Bett ihres Mannes abgelöst hatte.
Es war ein krasser Misserfolg. Elenas Antworten auf seine ersten Versuche waren brüsk und düster. Rossana bemühte sich vergebens, den Anschein heiterer Gelassenheit zu wahren, so wie es einer tugendsamen Ehefrau gebührte. Schon beim Fisch war ihre Unterhaltung gestorben, und sie lauschten der angeregten Diskussion am Kopfende des Tisches. Ashley war ganz zufrieden damit. So hatte er Zeit, nachzudenken. Und seine ersten Gedanken galten dem blonden Mädchen mit dem unglücklichen Gesicht, das ihm gegenüber saß.
Die Veränderung, die mit Elena Carrese vorgegangen war, war in der Tat erschreckend. Ihr Mannequin-Charme schien wie weggeblasen. Ihre Züge hatten sich gespannt und wirkten fremd. Ihre leeren, lachenden Augen spiegelten jetzt brütenden Hass wider. Warum? Weil er mit der Frau ihres Geliebten einen Ausflug gemacht hatte? Das hätte höchstens ein Grund für Triumph oder Gelächter, aber nicht für Tränen sein können. Weil er einen Mann überfahren hatte? Aber was für eine Verbindung konnte zwischen einem schäbigen kleinen Gauner wie Garofano und dieser teuren Sekretärin-Geliebten bestehen?
Wie sonst ließ sich andererseits der plötzliche Wechsel von unpersönlichem Flirt zu höchst persönlichem Hass erklären? Es sei denn, Orgagna hatte ihr mögliches Interesse an ihm gespürt und irgendeine neue Teufelei erfunden, um sie gegen ihn einzunehmen. Das war möglich. Bei dieser Dinner-Party war einfach alles möglich.
»… sind Sie nicht auch der Ansicht, Herr Ashley?« Orgagnas Stimme schreckte ihn aus tiefem Nachdenken auf.
»Ich bitte um Verzeihung – ich habe die Frage nicht verstanden.«
»Wir sprachen über Moral – Moral in der Kunst und Moral in der Politik.«
Ashley hob die Schultern.
»Ich bin Journalist und kein Philosoph.«
»Aber, aber – mein lieber Freund!« sagte Orgagna offenbar gut gelaunt. »Das ist doch schließlich eine Funktion der Presse, oder nicht? Ihre ganze Rechtfertigung besteht doch schließlich darin, daß sie ein Mahner der Moral sein sollte.«
Wut verdarb ihm den Geschmack am Wein. Schon wieder hatten sie ihn in der Zange und beobachteten seine Reaktionen auf jede ihrer neuen Bosheiten. Aber Wut war genau das, was sie brauchten. Wut und Unvorsichtigkeit. Er wagte nicht, auf ihr Spiel einzugehen.
Er nahm einen Schluck von seinem Wein und
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