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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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nicht mehr in den glatten, zweideutigen Phrasen des Diplomaten, sondern ruhig und einfach, wie ein Mann, der nichts weiter möchte, als sich seiner Heimkehr erfreuen.
    »Jedes Mal, wenn ich hierher komme – was in letzter Zeit nur allzu selten der Fall ist –, fühle ich mich wieder wie ein Kind. Ich bin hier geboren, müssen Sie wissen. Ich habe Häuser in anderen Gegenden Italiens. Aber daheim bin ich nur hier. Können Sie das verstehen?«
    »Aber ja. Jeder von uns hat nur eine Heimat.«
    »Lange vor dem Haus von Savoyen, lange vor den Bourbonen und lange vor dem Königreich beider Sizilien – noch ehe Amalfi Italiens erste Republik war, gehörte meiner Familie das Land unter unseren Füßen. Auf den Klippen werden Sie die Ruinen alter Türme sehen, die einst meine Vorfahren gegen die Sarazenen erbauten. Es ist eine lange, ereignisreiche, verworrene Geschichte. Wir haben verloren, wir haben gewonnen … Überall umgeben mich Erinnerungen. Ist es nicht so?«
    »Das stimmt«, sagte Ashley nüchtern. »Beinahe zu viele Erinnerungen.«
    »Es gefällt mir, daß Sie das sagen, Ashley. Es zeigt ein verständnisvolles Herz. Wenn Sie es auch nicht immer auf der Zunge tragen. Ich gebe gerne zu, manchmal ist es für mich beinahe zu viel. Wissen Sie, warum?«
    Orgagna beantwortete seine eigene Frage nicht sofort. Er führte Ashley einen kleinen Weg hinunter, der zwischen niedrigen Bäumen entlanglief. Am Ende der Allee war eine niedrige Mauer, von der der Felsen steil bis zu einem kleinen Fels abfiel.
    »Der Grund ist folgender, Ashley. Rossana hat mir kein Kind geschenkt. Ich bin der Letzte meines Namens. Mit mir stirbt die Familie aus, und damit die Vergangenheit.«
    »Noch ist Zeit«, sagte Ashley vorsichtig.
    »Wo die Liebe fehlt«, sagte Orgagna leise, »fehlt auch die Zeit.«
    Er stützte die Ellbogen auf die Mauer und starrte hinaus über das Tal.
    »Es ist dieses Bedürfnis, das uns allen gemeinsam ist, das Bedürfnis, uns durch Kinder an diese Erde zu klammern, von der uns der Tod doch schließlich verjagt. Nur das treibt uns von einer Frau zur anderen – von einem Ehrgeiz zum anderen. Wir sind traurige Kreaturen, Ashley. Blind vor Sehnsucht, uns selbst zu verewigen, bevor unsere Kraft uns verläßt und die Jungen uns ablösen.«
    Die beiden Männer standen nebeneinander und blickten ins Tal, über dem die heiße Sommerluft flimmerte. Dann richtete Orgagna sich auf und lächelte, um Entschuldigung bittend. »Ich langweile Sie, mein Freund. Verzeihen Sie mir. Lassen Sie uns unseren Rundgang fortsetzen.«
    Ashley brauchte eine Weile, bis er verstand, worauf Orgagna hinauswollte. Seine Hoheit bereitete seine Verteidigung vor. Auch die Art und Weise, in der Orgagnas Land bestellt wurde, war eindrucksvoll. Ashley kannte den jammervollen Zustand der süditalienischen Landwirtschaft nur allzu gut. Die primitiven, unwirtschaftlichen Methoden, den Mangel an geeignetem Zuchtvieh, die Auslaugung des Bodens durch falsche Fruchtfolge und schlechte Düngung. Er hatte das alles bei den kleinen Bauern gesehen und auch auf den großen Gütern in Apulien und Kalabrien. Auf den Latifundien, deren Eigentümer das Land ausbeuteten, um ihre Villen in Frascati und ihre Jachten in Rapallo zu finanzieren.
    Hier war das ganz anders. Alte Bäume wurden gefällt und das Land mit großer Sorgfalt behandelt. Das Holz wurde gesägt und sachgemäß zum Trocknen aufgeschichtet. Frische Aufforstungen wurden nach modernen Methoden vorgenommen und gepflegt. Kein Unkraut und keine Wasserpflanzen verstopften die Bewässerungskanäle, und die Orangenbäume waren neue Züchtungen, aus Australien und Kalifornien importiert.
    Orgagna quittierte Ashleys entsprechende Bemerkung mit einem Lächeln.
    »Das überrascht Sie, Ashley? Warum?«
    »Es ist selten in dieser Gegend.«
    »Nur allzu selten, da haben Sie recht«, sagte Orgagna ernst. »Aber Sie können ein ganzes Land nun mal nicht über Nacht verändern. Sie können nicht in fünf, zehn oder zwanzig Jahren die Unwissenheit und den Aberglauben von Jahrtausenden beseitigen. Dafür braucht man Erziehung. Und das heißt: Erzieher. Man braucht Straßen, Brücken, elektrischen Strom, Telefone.«
    Ashley nickte. Das war ganz offenbar richtig. Nicht offenbar war, was Orgagna daraus folgern wollte. Im Augenblick schien er es dabei bewenden zu lassen. Sie verließen die Orangenhaine und gingen über wilden Rasen, der sich zum Rand der Klippe hinzog. Der Boden war hier trocken und steinig, und das Gras wuchs

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