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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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braun und drahtig aus der kargen Erde. Eine Ziegenherde weidete träge darauf, unter den Augen eines alten, knorrigen Hirten, der vierzig Schritt entfernt auf einem Felsen saß.
    Orgagna deutete auf ihn.
    »Sehen Sie sich den gut an, mein Freund. Verstehen Sie ihn, und Sie werden anfangen, das Problem dieses Landes zu verstehen. Er ist sechzig Jahre alt, obwohl er wie achtzig aussieht. Seit fünfzig Jahren tut er die gleiche Arbeit. Er kann nicht lesen und nicht schreiben. Wenn Sie italienisch mit ihm reden, werden Sie keines seiner Worte verstehen, und er kein Wort von Ihnen. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Keine fünfzehn Kilometer von Sorrent entfernt. Und ich glaube nicht, daß er öfter als ein Dutzend Mal dort gewesen ist. Fragen Sie ihn, warum, und er wird Ihnen antworten, daß ihm das Leben hier gefällt und daß er keinen Grund hat, es zu ändern. Er ist auf seine Weise glücklich gewesen, und er sieht nicht ein, warum dieses Glück nicht gut genug für seine Kinder und Kindeskinder sein soll. Er und hunderttausend seinesgleichen sind das größte Problem, dem wir uns heute in Italien gegenübersehen.«
    »Da bin ich anderer Ansicht«, sagte Ashley brüsk.
    Orgagna sah beinahe erschrocken auf.
    »Wieso?«
    Ashley schwieg lange. Die Worte waren ihm unbedacht entfahren, doch nachdem er sie ausgesprochen hatte, wußte er, daß damit die Entscheidung gefallen war. Hätte er dieses unwürdige Spiel von Andeutungen und Anspielungen endlos mitmachen sollen? Hätte er noch länger im Haus eines Feindes leben sollen mit dem Gedanken, daß er der Geliebte seiner Frau gewesen war? Hätte er weiter sein Brot essen und ihm über das Weinglas zulächeln sollen, während er plante, ihn zu vernichten? All das mußte aufhören – jetzt und hier mußten die Karten auf den Tisch gelegt werden. Orgagna wiederholte seine Frage. »Wieso?«
    »Weil Menschen wie dieser Mann da«, er wies auf den alten Hirten, »auf der ganzen Welt zu finden sind. In England, in Amerika, in Australien, in Holland. Sie sind nicht für die Zukunft verantwortlich. Für die Zukunft verantwortlich sind die Männer, die Erziehung, Reichtum, Einfluß und Macht besitzen, und die das alles nur allzu oft für ihren eigenen Profit einsetzen, anstatt für das Wohl ihres Volkes.«
    Es war heraus, und er war froh. Er hatte seine Würde wiedergewonnen. Jetzt war Orgagna dran. Doch Orgagna ließ sich zu keiner Unvorsichtigkeit verleiten. Er war zu klug, sich auf einen Streit mit einem Mann einzulassen, der ihn in der Hand hatte. Ohne ein Wort wies er auf die Turmruine auf der Klippe.
    »Sehen Sie das an, Ashley«, sagte er mit ruhiger, gemessener Stimme. »Der Mann, der das baute, war mein direkter Vorfahr. Sein Name ist der meine: Vittorio. Er war ein unangenehmer Bursche, so wie wahrscheinlich auch ich es bin. Er war ein Rohling, ein Säufer und Schürzenjäger. Fast jedes Mädchen im Dorf hatte ein Kind von ihm. Und doch liebten ihn die Leute. Sein Name ist bis heute Legende. Wissen Sie, warum? Weil er bei jedem Überfall seine Leute aufrief, seine Bauern mit Äxten und Enterhaken bewaffnete und an ihrer Spitze auszog, um den Feind ins Meer zurückzutreiben. Was bedeutete es schon, daß er trank? Was bedeutete es schon, daß er sie bis aufs Blut aussaugte, daß er sie prügelte und daß er ihre Töchter verführte? Er erhielt ihnen ihr Land! Und sie wußten, daß es letzten Endes auf nichts anderes ankommt als auf das Land. Er war stark, und sie brauchten seine Stärke – so wie sie sie heute brauchen, Ashley. So wie sie sie immer brauchen werden!«
    Und damit machte Orgagna auf dem Absatz kehrt und ließ ihn allein.
    Ashley sah auf den alten Turm: zerbrochen und zerbröckelnd, doch noch immer die Stirn dem Meer bietend. Und er sah das feine Flechtwerk der Reportage seines Lebens schwanken und zusammenstürzen wie ein Kartenhaus.

8
    Die Sonne brannte in seine Augen. Die Hitze stieg vom Boden auf und versengte sein Gesicht. Schweiß lief an seinem Körper herunter. Er beschloß, ein Bad zu nehmen. Er ging bis zum Rand der Klippe und sah hinunter.
    Ein enger Felsenpfad führte zu einem kleinen Sandstrand. Das Wasser war klar und sauber, von seinem Standpunkt aus konnte er das hin und her wogende Seegras und die bunten Wasserpflanzen erkennen. Die Felsen erhoben sich jäh aus dem Meer und bildeten kleine Plattformen, auf denen man sich sonnen und von denen aus man ins tiefe Wasser springen konnte.
    Er trat vom Rand der Klippe zurück und begann den

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