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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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einzige, was mich überhaupt interessiert. Geld und Malerei.«
    »Und wo bleibt der mitfühlende Freund?«
    »Für den brauche ich's ja«, sagte Tullio unschuldig. Dann hörten Sie den Gong zum Lunch und gingen zusammen aus dem Zimmer, grinsend wie Verschwörer. Trotz seiner verletzten Augen und Rossanas verletztem Stolz freute sich Ashley auf das Essen.
    Er hatte viel Wichtiges in Erfahrung gebracht, und es sah ganz so aus, als würde er bald noch mehr hören. Ja, mehr als das, er hatte einen Verbündeten gewonnen, den die stärkste aller Bande an ihn fesselte: Geld.
    Der Lunch wurde unter einer Weinpergola in der Ecke der großen Terrasse serviert. Der Herzog von Orgagna, Rossana und Elena hatten schon Platz genommen, als Tullio und Ashley herunter kamen. Mädchen eilten herbei mit großen Platten, die sie unter Aufsicht Carlo Carreses von einem zum anderen trugen. Carrese stand neben dem silbernen Eiskübel, in dem schwerer Weißwein aus Orgagnas Weinbergen kühlte.
    Die Sonne hatte jeden träge gemacht, und niemand verspürte Bedürfnis nach lebhafter Unterhaltung. So konnte Ashley hinter dunklen Sonnengläsern in aller Ruhe seine Tischgenossen studieren.
    Doch mehr als seine Tischgenossen interessierte ihn der Haushofmeister. Seine Haltung war durchaus dienstbereit, nur Orgagna gegenüber kam noch eine respektvolle, beinahe väterliche Fürsorge dazu, die sich darin äußerte, wie er die Kissen im Stuhl des Herzogs zurechtrückte, nach der Qualität des Weines und der Gerichte fragte und stets auf die kleinste Geste reagierte.
    Er muß beinahe siebzig sein, dachte Ashley, doch war sein Rücken gerade, seine Hände zitterten nicht, und er bewegte sich mit der Geschicklichkeit eines jungen Mannes. Sein Gesicht war zerfurcht und verwittert wie ein Felsen. Um seine Augen lagen tiefe Falten, und sein Mund war energisch und fest. Die große gebogene Nase und seine schwarzen, leuchtenden Augen verliehen ihm eine seltsame Ähnlichkeit mit Orgagna.
    Ashley fragte sich, ob wohl auch in seinen Adern Orgagna-Blut rollen mochte. Er dachte an die Geschichte des alten Vittorio und der Dorfmädchen, die der Herzog ihm vor wenigen Stunden erzählt hatte. Ganz offensichtlich war Carreses Stellung eine durchaus besondere. Orgagna, der dem sonstigen Personal gegenüber brüsk und unverbindlich war, lächelte stets liebenswürdig, wenn er mit dem alten Mann sprach.
    Ein neues Rätsel.
    Der Tote war Elenas Bruder, mußte also der Sohn des alten Haushofmeisters sein. Wie konnte man die freundschaftlichen Bande erklären, die einen Vater mit dem Mann verbanden, der seinen Sohn getötet hatte? Oder hatte etwa auch der Vater bei dem Mord mitgewirkt?
    Auf den ersten Blick schien der Gedanke verrückt. Aber schließlich suchten die Gespenster noch schwärzerer Sünden die düsteren Paläste von Florenz und Venedig heim. Es war ein altes Land, wie Harlequin ihm gesagt hatte, und seine leidenschaftliche, schwer zu verstehende Bevölkerung lebte noch immer im Schatten einer bewegten Vergangenheit.
    Nach dem Essen zogen sich alle für eine Siesta in das Haus zurück. Nur Ashley, unternehmender als die anderen und verständlicherweise auch nervöser, suchte den Schatten eines Orangenhaines auf, dessen gedämpftes Licht seinen schmerzenden Augen wohltat, und wo die Luft kühl war und duftete.
    Diesmal führte ihn der Weg zu einer stillen, mit Steinbänken umstandenen Lichtung. Am entfernten Ende stand eine kleine ummauerte Madonna. Eine antike Statue auf einem Piedestal. Eine Lampe hing davor und eine Vase voller Blumen. Doch war die Lampe ohne Öl, und die Blumen welkten in der trockenen Sommerluft.
    Ashley setzte sich auf eine Bank und betrachtete die Statue. Das winzige Gesicht war sanft und weltentrückt, mit dem Ausdruck zeitloser Zärtlichkeit für das Jesuskind in den Armen. Die Vergoldung der Krone blätterte ab, und das Blau des Mantels verblich, doch noch immer war die Statue schön und zeugte in ihrer seltsamen Einfachheit von heiligem Ernst.
    Auch damit mußte man bei diesen Leuten rechnen, erinnerte sich Ashley. Sie glaubten an Gott und an den Teufel. Sie glaubten an die Muttergottes und an die himmlischen Heerscharen von Heiligen und Engeln. Ihr Verhältnis zum Jenseits war echt und persönlich. Und wenn auch ein Puritaner von ihren allzu blühenden Symbolen und von ihrem Aberglauben abgestoßen werden mochte, so mußte man doch zugeben, daß sie ein offenes, lebhaftes Volk waren, das es liebte, seinen Himmel zu sehen und die

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