Die Stunde des Fremden
Schwefeldüfte seiner barocken Hölle zu riechen.
Selbst Männer wie Orgagna und Frauen wie Rossana waren in diesem Glauben erzogen. Wenn sie auch vorgaben, ihm nicht anzuhängen, gelang es ihnen doch niemals ganz, ihn abzulegen. Er verlieh ihrer Leidenschaft eine eigenartige Intensität und ihren Sünden besondere Entschlossenheit. Wer für Liebe oder Profit ewige Verdammnis riskiert, kümmert sich selbstverständlich weniger um die irdischen Risiken. Der Gedanke beunruhigte ihn. Er gehörte nicht hierher. Er war ein Mann aus der Neuen Welt, nackt, isoliert und unvorbereitet auf die Tücken und Ränke dieses alten Volkes. Er mußte an George Harlequin denken und empfand plötzlich eine wilde Sehnsucht nach seiner trostreichen Gegenwart. Harlequin war Europäer – mit mehr Verständnis für die Feinheiten dieser Leute. Er war … Dann übermannte ihn der Schlaf, und er sank entspannt gegen die rauen Steine.
Er erwachte vom Schluchzen einer Frau. Geistesgegenwärtig genug, sich nicht zu rühren, beobachtete er gespannt und schweigend die klägliche kleine Szene, die sich vor der Statue abspielte. Elena Carrese kniete dort mit gesenktem Kopf. Heftiges Schluchzen ließ ihre Schultern erbeben. Ihr Haar war wirr, und ihre Hände streichelten die Füße der Statue. Immer wieder hob sie den Kopf und sah in die milden Augen der Madonna, während sie im Dialekt der Halbinsel leidenschaftliche Gebete murmelte.
Vieles davon blieb Ashley unverständlich, doch sprach er gut genug italienisch, um wenigstens den Sinn zu erfassen. »Madonna mia! – Mutter Gottes! Erbarme dich meines Elends … Erbarme dich! Erbarme dich! Ich habe ihn geliebt, und er hat mich von sich gestoßen. Ich bin seine Geliebte geworden, und seinetwegen habe ich meine Seele dem Teufel verschrieben. Nun will er mich mit einem Mann verheiraten, der kein Mann ist, der die Frauen hasst und mir Kinder verweigern wird … Erbarme dich meiner, Madonna! Du, die du eine Frau bist und mich verstehst. Erbarme dich meiner und gib ihn mir wieder …«
Die Worte sprudelten aus ihr hervor, und wieder und wieder kam die gleiche Bitte, wie ein Refrain, bis der Kummer Elena erschöpft und verzweifelt am Fuß der Statue zusammensinken ließ.
Während Ashley sie beobachtete, wurde ihm klar, daß jetzt oder nie der Augenblick gekommen war, in dem er sie zu seiner Verbündeten machen mußte. Aber er wußte auch, daß er sie durch den kleinsten Fehler für immer verlieren würde. Er wagte nicht, sich ihr zu nähern. Er wagte nicht, sie zu berühren. Er sprach zu ihr von der Stelle aus, an der er saß, sanft und voller Mitleid.
»Die Madonna versteht Sie. Auch ich verstehe Sie. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie es mir nur erlauben. Zu Füßen der Madonna schwöre ich Ihnen, daß ich Ihren Bruder nicht umgebracht habe.«
Langsam, vorsichtig hob Elena den Kopf und sah ihn an. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und zeigte keine Spur der gepflegten Schönheit, die es auf der Terrasse des Hotels Caravino hatte. Sie war zurückgekehrt zu ihrer Vergangenheit – ein Bauernmädchen mit gebrochenem Herzen, allein und verlassen in einer großen, gleichgültigen Welt. Sie hatte nicht die Kraft, um davonzulaufen. Sie hockte da und starrte ihn an, mit dem nackten, erschrockenen Blick eines in die Enge getriebenen Tieres.
Ashley lächelte sie an. Er sprach mit leiser, besänftigender Stimme, so wie man zu einem Hund sprechen mochte, geduldig, doch nicht ohne Furcht.
»Ich weiß, wie es Ihnen ergangen ist, Elena. Sie tun mir herzlich leid. Ich weiß auch, was er mit Ihnen vorhat, und ich bemitleide Sie deswegen noch mehr. Ich weiß, was man Ihnen für Lügen erzählt hat, und ich weiß auch, warum man sie Ihnen erzählt hat. Man hat Ihnen erklärt, ich hätte Ihren Bruder umgebracht. Nicht ich, sondern andere haben ihn genommen und auf der Straße nach Sant' Agata unter die Räder meines Wagens geworfen. Man hat Ihnen eingeredet, ich sei ein Lügner und Betrüger. Doch sind es in Wahrheit die anderen, die gelogen haben. Geben Sie mir nur einen Augenblick Zeit, hier, jetzt. Dann will ich Ihnen die Wahrheit sagen, und Sie können sich selbst ein Urteil bilden. Ich will versuchen, Ihnen zu helfen. Sie dürfen keine Angst vor mir haben. Wenn Sie gehen wollen – ich werde Sie nicht aufhalten. Wenn Sie hier bleiben und mit mir reden, werde ich Sie nicht berühren und Ihnen nicht einmal nahe kommen. Ich schwöre es, zu Füßen der Madonna.«
Langsam, ganz langsam begannen seine Worte
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