Die Stunde des Fremden
anderes beten?«
»Um was?«
»Sollten Sie nicht für Ihren Sohn beten, der von Ihrem Herrn ermordet wurde?«
»Ich habe keinen Sohn, Signore.«
Ashley sah die Hand mit dem Messer nach oben schießen, auf sein Herz zu.
Er packte das Handgelenk des Alten und drehte ihm den Arm herum. Das Messer schwirrte durch die Luft und landete klirrend auf der Steinbank. Er hörte den Alten vor Schmerz ächzen und stieß ihn in Richtung auf die Statue. Die Blumenvase fiel um, Öl floß über die kleinen, zarten Füße der Madonna.
»Sie sind ein Narr«, schrie Ashley erregt. »Ihr Herr ist ein Betrüger, und Ihre Tochter ist schon verloren. Und keiner von beiden wird Ihnen danken, was Sie heute getan haben.«
Er wandte sich ab und ging langsam durch die Orangenbäume davon.
Der Alte sah ihm mit düsteren, Hasserfüllten Blicken nach …
9
Nach dem Dinner bat Orgagna Richard Ashley in sein Arbeitszimmer.
Sie ließen Rossana und die anderen beim Kaffee im Salon zurück und gingen nach oben in einen großen, holzgetäfelten Raum, durch dessen Fenster man das Meer und die Lichter Capris sah. Die Möbel waren von herrlichem Barock, und Regale voller Pergamentbände bedeckten zwei Wände. Schon wieder fand Ashley sich von so viel Großartigkeit beinahe bedrückt, während sich Orgagna mit der Selbstverständlichkeit des Besitzers in dieser Umgebung bewegte.
Aus einem Wandschrank nahm er Kognak und Zigarren. Als der Kognak gewärmt war und die Zigarren brannten, setzten sie sich einander gegenüber in hochlehnige Sessel, die vor einem Fenster standen. Orgagna kam sofort zur Sache.
»Ich bin zu der Einsicht gelangt, Ashley, daß Offenheit für uns beide von Vorteil wäre.«
»Offenheit ist mir jederzeit Willkommen.«
»Gut!« Orgagna klopfte die Asche von seiner Zigarre und nippte vorsichtig an seinem Kognak. »Es mag Sie überraschen, daß ich trotz allem, was zwischen uns vorgefallen ist, einen – einen gewissen Respekt vor Ihnen habe. Sie verfügen über klaren Verstand, viel Mut und ungewöhnliche Zielstrebigkeit. Unter anderen Umständen hätten wir sehr wohl Freunde werden können. Das ist nun unmöglich. Doch ich bin, eben weil ich einen gewissen Respekt vor Ihnen habe, durchaus bereit – und zwar ohne damit meinem Stolz allzu großen Schaden zuzufügen –, mich Ihnen zu erklären.«
»Sehr interessant«, sagte Ashley vorsichtig.
»Zunächst einmal müssen Sie wissen, daß ich über Ihre Untersuchungen, mein persönliches und mein politisches Leben betreffend, vollkommen informiert bin. Ich habe diese Untersuchungen von Anfang an mit dem größten Interesse verfolgt. Ich mache Ihnen gern das Kompliment, daß Sie überaus gründliche Arbeit geleistet haben.«
»Danke sehr.«
Orgagna wischte die Ironie beiseite.
»Ich weiß«, fuhr er fort, »daß Ihre Anklage sich letzten Endes auf eine Anzahl Briefe stützt, derentwegen Sie nach Sorrent gekommen sind. Und zwar, um sie von dem inzwischen verstorbenen Enzo Garofano zu kaufen. Ich gebe gern zu, daß die Veröffentlichung Ihrer Story mich möglicherweise meinen Sitz im Parlament und ganz bestimmt meinen Platz im Kabinett kosten würde. Es liegt daher in meinem Interesse, die Veröffentlichung zu verhindern. Wie Sie sehen, bin ich vollkommen offen mit Ihnen.«
»Allerdings.«
»Ihre frühere Verbindung zu meiner Frau und das augenblickliche Interesse, das sie an Ihnen zu haben scheint, sind beide gleichermaßen peinlich für mich. Nicht, wie Sie verstehen werden, aus Herzensgründen, sondern aus politischen Rücksichten.«
Ashley rückte unruhig in seinem Stuhl hin und her und roch an seinem Kognakglas. In Orgagnas dunklen Augen flackerte eine leise Belustigung.
»Nun, Herr Ashley, kommen wir zum Kern der Sache. Ich glaube, daß Sie über die Photokopien meiner Briefe verfügen, wenn Sie sie vielleicht auch nicht unmittelbar in Ihrem Besitz haben sollten. Ich glaube, daß einzig und allein Ihr unglückliches Verhältnis zur Polizei und Ihr augenblicklicher Zustand – sie sind halb gefangen in meinem Haus – die sofortige Veröffentlichung verhindert. Habe ich recht?«
Ashley zuckte die Schultern. »Es ist eine durchaus einleuchtende Annahme«, antwortete er.
»Also …!« Orgagna lehnte sich zurück und unterbrach sich, indem er an seinem Kognak nippte. »Also finde ich mich selbst in einer höchst seltsamen Lage. Ich wünsche mit Ihnen zu verhandeln. Ich weiß, daß Sie sich nicht leicht einschüchtern lassen. Und ich glaube nicht, daß Sie leicht
Weitere Kostenlose Bücher