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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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sie zu erreichen. Er sah, wie sie allmählich ihre Bedeutung begriff. Er sah ihre Augen voller Feindseligkeit aufleuchten, und er sah, wie die Feindseligkeit der Furcht und der Neugier wich und schließlich einer leisen, leisen Hoffnung.
    Dann endlich erhob sie sich, wischte mit einer mechanischen Geste den Staub von ihren Knien und suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Ashley warf ihr das seine zu.
    »Hier, nehmen Sie meins! Es ist größer.«
    Kurz vor ihren Füßen fiel es zu Boden. Wenn sie es aufhob, würde er gewonnen haben. Wenn nicht …
    Sie sah das Taschentuch an, dann blickte sie ihn an. Einen Augenblick lang zögerte sie, bückte sich, hob es auf und wischte die Tränen von ihrem Gesicht. Dann kam sie auf ihn zu und setzte sich neben ihn.
    »Sprechen Sie«, sagte sie. Ihr Gesicht zeigte keine Bewegung.
    Er sprach.
    Er erzählte ihr alles – die Geschichte seiner alten Liebe zu Rossana, seine Untersuchungen gegen Orgagna, die Fahrt auf den Berg, den Unfall, seine Unterredungen mit dem Herzog und seine Aussage vor der Polizei. Nur seine Verabredung mit Tullio Riccioli verschwieg er.
    Als er geendet hatte, saß sie mit geschlossenen Augen, steil aufgerichtet, die Hände im Schoß gefaltet, neben ihm.
    »Glauben Sie mir?« fragte er leise.
    »Ja«, sagte sie. Ihre Stimme war tot und tonlos.
    »Wissen Sie, daß wir einander helfen können?«
    »Ja.«
    »Ich bin bereit, Ihnen zu helfen. Wollen auch Sie mir helfen?«
    Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Mit leisem Schrecken erkannte er den neuen Teufel, den er geweckt hatte. Elena Carrese war jetzt eine von Eifersucht zerfressene Frau. Ihre Liebe zu dem Mann, der sie verführt und dann verraten hatte, wandelte sich in Hass.
    »Ja«, sagte sie. »Ja, ich werde Ihnen helfen, ihn zu vernichten.«
    Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und brach von neuem in Schluchzen aus, während Ashley ihr in einem hilflosen Versuch, sie zu trösten, auf die Schulter klopfte. Sie lehnte sich an ihn, wie ein Kind sich an die tröstende Brust des Vaters lehnen mag.
    Und als Carlo Carrese in die Lichtung trat, fand er sie in Ashleys Armen.
    Wie ein Turm stand der Alte über ihnen, sein Gesicht steinern, seine Augen sprühend von kaltem Zorn. In einer Hand hielt er ein kurzes Messer, in der anderen einen kleinen Strauß Blumen, die er für die Madonna geschnitten hatte. Elena riß sich aus Ashleys Armen und starrte ihn schreckensbleich an. Ashley beobachtete ihn aufmerksam, durchaus gewärtig, daß sich der Alte mit dem Messer sofort auf ihn stürzte.
    Carlo Carrese rührte sich nicht. Sein Mund öffnete sich, und seine Stimme kam trocken und schneidend wie ein Peitschenschlag.
    »Du, Kind, geh ins Haus!«
    Sie stand auf, drückte sich um ihren Vater herum, als hätte sie Angst, er könnte nach ihr schlagen, und rannte, so schnell sie konnte, auf dem Weg unter den Orangenbäumen davon. Carlo Carrese machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Madonna. Sorgfältig und ohne Hast nahm er die verwelkten Blumen aus der Vase, füllte Wasser nach und begann, die frischen Blüten einzeln einzuordnen. Hinter der Statue hervor holte er eine kleine Ölflasche, füllte die Lampe und zündete sie an. Dann bekreuzigte er sich, nahm die Mütze ab und stand mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf lange Zeit betend davor.
    Ashley beobachtete ihn fasziniert. Als der Alte sein Gebet beendet hatte, stand der Reporter auf und ging zu ihm.
    »Worum haben Sie gebetet, Carlo?« fragte er leise.
    Die Frage überraschte ihn. Einen Augenblick lang überlegte er. Endlich kam die Antwort, wobei seine dunklen Augen niemals Ashleys Blick losließen.
    »Als der alte Herzog starb, Signore, nahm er mir das Versprechen ab, mich um seinen Sohn zu kümmern. Ich mußt ihm geloben, für ihn zu sorgen, als wäre er mein eigener. Ich habe das getan, nach besten Kräften. Jetzt bin ich alt. Ich habe nicht mehr viel Kraft. Also … bete ich für ihn … und für die Ehre seines Hauses.«
    »Ein gutes Gebet«, sagte Ashley.
    »Ich bete für mehr als das, Signore.« Die dunklen Augen hielten ihn fest: »Ich bete für die Signora, die Frau meines Herrn. Ich bete, daß die Madonna ihre Hand schützend über sie halten möge. Ich bete um ihre Sicherheit und um ihre Weisheit. Ich bete, daß Sie uns bald verlassen mögen und wieder Friede einkehrt. Ich bete, daß meine Tochter ihre Seele rein für Gott und ihren Körper sauber erhalten mag für den Mann, der sie heiraten wird.«
    »Sollten Sie nicht noch um etwas

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