Die Stunde des Löwen
der MaybachstraÃe. Immerhin lebte er in Frankfurt. In einer Metropole, in der â im Gegensatz zu Michelbach im Odenwald â so etwas wie ein Nachtleben existierte. Warum also nicht den Abend in irgendeiner Bar stilvoll mit einem Malt-Whisky ausklingen lassen und dabei der einen oder anderen Büromieze auf den Hintern schauen?
Stattdessen parkte er den Golf nicht einmal zehn Minuten später vor dem Altbau in der FeuerbachstraÃe, in dem Selma Tassen gewohnt hatte. Als er Magdalena Eisner in ihr Wohnzimmer folgte, nahm er den scharfen Geruch von eingelegtem Handkäse wahr.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte die Rentnerin mit den auftoupierten Locken und lächelte. »Aber ich war gerade dabei, das Abendessen zu richten.«
»Ich bin es doch, der um Verzeihung bitten muss«, entgegnete Born. »Immerhin überfalle ich Sie unangemeldet und zu später Stunde. Aber ich muss noch mal in die Wohnung gegenüber und hab den Schlüssel im Präsidium liegen gelassen. Vielleicht könnten Sie so freundlich sein und mir mit Ihrem aushelfen?«
Die Idee, noch einmal Selma Tassens Hinterlassenschaft unter die Lupe zu nehmen, war ihm auf der Jagd nach einem Parkplatz in der Nähe der »22nd Lounge & Bar« gekommen. Vielleicht würde es ihm ja gelingen, durch eine gezielte Suchaktion einen Hinweis auf die Identität des jungen Mannes zu bekommen. Jetzt, da er wusste, dass der Unbekannte ein hell lackiertes Fahrzeug eines japanischen Herstellers fuhr. Ein Foto oder eine Notiz beispielsweise, die bislang keine Bedeutung für die Ermittlungen gehabt hatte, könnte sie nun einen wichtigen Schritt weiterbringen. Denn auch für den Fall, dass der Mann nicht als Täter in Frage kam, könnte er ihnen vielleicht etwas mehr über Selma Tassens geheimnisumwittertes Leben erzählen.
Born durchtrennte das Polizeisiegel und öffnete die Wohnungstür. Nachdem er in jedem Zimmer die Deckenbeleuchtung angeschaltet hatte, machte er sich ans Durchsuchen der Schränke und Schubladen. Beim Stöbern überlegte er, was Milan Tassen als Erbe mit all dem Zeug anfangen sollte: mit den Möbeln, den Erinnerungsstücken, den Bildern, den Accessoires vom Ballett, den vielen Klamotten und dem groÃen Sortiment an Unterwäsche.
Am Ende seiner Inspektion lieà er sich im Schlafzimmer auf dem Bett nieder. Zu seiner Enttäuschung hatte er nichts gefunden, was sie in puncto Identität des Unbekannten auch nur einen Schritt voranbrachte. Nicht einmal die Tube »Warming Glide« war im Bad oder im Nachttischchen aufgetaucht. Während er sich mit kreisenden Bewegungen die Schläfen massierte, lenkte er seine Gedanken auf den Mordabend im Sheraton. Gut möglich, dass sich das Gleitmittel in der aus dem Hotelzimmer verschwundenen Tüte befunden hatte. Die konnte im Grunde nur der Mörder mitgenommen haben. Vermutlich, um nach der Tat den ursprünglichen Zweck des Treffens zu verschleiern. Er hatte ja schon von Anfang an geglaubt, dass sich Selma Tassen im Sheraton eingemietet hatte, um mit jemandem Sex zu haben. Ob Martha Rosen mit derselben Person Kontakt gehabt hatte? Den Kopf in den Nacken gelegt, schielte er auf das Aktbild über dem Bett.
Das Klingeln seines Handys lieà ihn zusammenfahren. Als er es aus der Manteltasche holte, erkannte er auf dem Display Mannfelds Mobilnummer.
»Wo bist du?« Er hörte sofort, dass ihre Stimme aufgewühlt klang.
»Ich sitze im Schlafzimmer der Tassen auf dem Bett.«
»Wo? Was machst du denn da?«
»Mir das Aktbild noch mal ansehen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ist âne längere Geschichte. Die erzähl ich dir aber später. Und du? Wo treibst du dich rum?«
»In der Wohnung von Fátima de Zosa.«
»Who the hell is �«
»Die Vermisste, von der Niemann heute im Büro gesprochen hat.«
»Die Fünfzigjährige?«
»Genau die. Und stell dir vor, Fátima de Zosa ist auch Hobbymalerin.«
In ersten Moment wusste er nichts mit der Information anzufangen. Doch dann verstand er, worauf Mannfelds Bemerkung abzielte, und er starrte auf das Aktbild über dem Bett.
»Jetzt rate mal, was die Frau malt?«
»ScheiÃe«, sagte er leise. »Ich kannâs mir denken.«
»Ich hab gleich mehrere Studien von dem nackten Mann gefunden â oder besser gesagt von dessen Torso. Fátima de Zosa hat das Gesicht auf ihren Bildern nämlich
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