Die Stunde des Löwen
Essen davon berichtete. Bestimmt würde er eine ulkige Grimasse schneiden und sich in aufgesetzt flapsigem Ton erkundigen, warum sie bei der Gelegenheit denn nicht was Nettes aus dem Laden mitgebracht hatte. Doch sie wusste, dass er das nicht nur sagen würde, um witzig zu sein. Seit ein, zwei Wochen schon machte er immer wieder Andeutungen und schlüpfte nachts zu ihr unter die Decke. Obwohl sie ihm zu verstehen gegeben hatte, dass es für sie so kurz nach der Geburt noch zu früh war.
Nachdem sie sich im Präsidium von Born verabschiedet hatte, war ihr am Fahrstuhl Sven Niemann über den Weg gelaufen. Vielleicht hatte sie der Kollege, dem »Hilfe, ich bin schüchtern« regelrecht auf die Stirn geschrieben stand, auch dort abgepasst. Zu ihrer Verwunderung hatte er sie noch einmal auf die vermisste Frau angesprochen. Ob sie sich der Angelegenheit nicht doch noch annehmen könne. Ohne die Antwort abzuwarten, hatte er ihr einfach den Zettel mit der Telefonnummer der Schwester der Verschwundenen in die Hand gedrückt.
Ein leises Glucksen auf ihrem Schoà holte sie zurück in die Gegenwart. Henry war eingeschlafen. Sein Fläschchen hatte er, bis auf einen kleinen schaumigen Rest, ausgetrunken. Darauf bedacht, ihren kleinen Schatz nicht aufzuwecken, legte sie ihn in die Wiege. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür hinaus und setzte sich im Wohnzimmer an den mit Kerzen gedeckten Tisch.
Den Geschmack des leckeren Abendessens noch auf der Zunge, kontrollierte sie im Kinderzimmer den Schlaf ihres Sohnes. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer stach ihr im Flur Niemanns Notizzettel ins Auge. Sie hatte ihn an die Korkwand über dem Telefontischchen gepinnt.
»Kommst du?«, hörte sie Jan leise rufen. »Es ist noch ein Schluck Wein in der Flasche.«
»Gleich«, antwortete sie. »Ich möchte nur noch kurz einen Anruf tätigen.«
Schon als das Freizeichen in der Leitung ertönte, ärgerte sie sich, zum Hörer gegriffen zu haben. Born hatte mit seiner Bemerkung über das Alter der Vermissten den Kern des Problems bereits angesprochen. Die Frau passte nicht zu den anderen beiden Opfern. Und in einer GroÃstadt wie Frankfurt verschwanden ständig Menschen: Männer, Frauen, Kinder, Greise, Hilfsbedürftige, Leute wie du und ich.
»Susana Rossi.«
»Guten Abend. Sind Sie die Schwester von â¦Â« Sie musste den Blick senken, um den Namen vom Notizzettel ablesen zu können, »Fátima de Zosa?«
»Ja, die bin ich. Wer ist denn bitte am Apparat?«
»Verzeihen Sie. Mein Name ist Jula Mannfeld. Ich bin Polizistin. Ein Kollege hat mich informiert, dass Sie Ihre Schwester vermissen.«
»Ist Fátima aufgetaucht?«
Die Stimme der Frau klang angespannt.
»Nach unserem letzten Erkenntnisstand leider nicht. Wann und wie haben Sie denn bemerkt, dass Ihre Schwester verschwunden ist?«
»Gestern Abend so gegen zehn. Wir waren bei ihr zu Hause verabredet.«
»Treffen Sie sich immer so spät?«
»Nein, Fátima hatte vorher keine Zeit. Und ich wollte etwas mit ihr bereden.«
»Darf ich fragen, um was es ging?«
Susana Rossi zögerte mit ihrer Antwort. »Ich habe Eheprobleme. Es gibt Anzeichen, dass mein Mann mich betrügt.«
»Und Sie sind um zehn bei Ihrer Schwester eingetroffen?«
»Ja, doch Fátima hat mir nicht geöffnet. Ich besitze aber einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Mit dem bin ich rein und habe ferngesehen und gewartet. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen und erst am Morgen wieder aufgewacht.« Es entstand eine kleine Pause, nach der Susana Rossi kurz die Fassung verlor und »Fátima ist bestimmt entführt worden« ins Telefon schluchzte.
»Haben Sie denn einen Grund zu der Annahme?«
»Nicht direkt. Aber Fátima würde mich nie versetzen. Noch dazu, wenn sie weiÃ, dass ich Kummer habe.«
»Haben Sie versucht, sie anzurufen?«
»Natürlich, aber es geht nur die Mailbox dran.«
»Ist Ihnen aufgefallen, ob in der Wohnung etwas fehlt? Ich denke da in erster Linie an Kleidung, Koffer oder Toilettenartikel.«
»Nein. Es war alles so wie immer. Auch die Katze war noch da. Dabei würde Fátima nie über Nacht wegbleiben, ohne Lua zu versorgen oder sie bei ihrer Nachbarin abzugeben.«
Das mit der Katze war in der Tat verdächtig. Sie seufzte. Gut möglich, dass der Frau etwas zugestoÃen war, was aber nicht zwingend
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