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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
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einen Schluck von seinem Cappuccino nahm. »Gut aussehend, Schwiegermuttertyp. Dem Alter nach hätte er fast ihr Enkel sein können«, fuhr er in leicht entrüstetem Tonfall fort. »Ich befand mich nur wenige Schritte hinter ihnen. Unwahrscheinlich, dass Amelie mich bemerkt hat. Ihr ist eine Zimmerkarte vom Hotel runtergefallen. Der Schönling hat sich sofort gebückt und die Karte aufgehoben. Als er sie in ihre Handtasche gleiten ließ, hat Amelie ihn angelächelt. Und ihm zärtlich mit der Fingerspitze über den Unterarm gestrichen.«
    * * *
    Kollege Zufall hatte ihn in dieses Hotel gespült. Während vor dem Fenster Schneeflocken aus einem grauen und düsteren Himmel trieben, lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett und ließ zum hundertsten Mal den Blick über die nüchterne Zimmereinrichtung schweifen: ein Schreibtisch aus dunklem lackiertem Holz, ein dazu passender Stuhl, ein gerahmter Druck von Monet an der Wand, ein Fernseher mit Flachbildschirm und eine mit Bier, Wein, Wasser, Cola, Saft und Nüsschen gefüllte Minibar.
    Als er sich vorhin einen Orangensaft aus dem Kühlschrank geholt hatte, war ihm ein brauner Fleck von der Größe einer Ein-Cent-Münze aufgefallen, der oben rechts an der laminierten Preisliste klebte. Der Klecks und das schwarze Haar, das er bei seiner Ankunft vom Bettlaken hatte zupfen müssen, waren aber auch schon das Einzige, was es an den hygienischen Verhältnissen in Zimmer 402 zu beanstanden gab.
    Der funktionalen Ausstattung und den moderaten Zimmerpreisen nach zu urteilen wurde das Hotel »Iris« hauptsächlich von Geschäftsreisenden mit niedrigem Budget frequentiert. Stil und Ambiente des Hauses hielten dem Vergleich mit dem Sheraton selbstverständlich nicht stand. Die Vorzüge dieser Unterkunft lagen auf anderem Gebiet. So war es dem Gast beispielsweise möglich, nachts mit einer EC - oder Kreditkarte am Automaten einzuchecken. Der Anreisende musste dem Personal an der Rezeption also nicht persönlich gegenübertreten, um seine Zimmerkarte ausgehändigt zu bekommen.
    Nun logierte er schon den zweiten Tag im Hotel »Iris«. In einer Art schützender Blase, die mit der Welt draußen nichts zu schaffen hatte. Vorgestern Nacht war er angekommen und hatte das Zimmer seither nicht verlassen. Aufs Frühstück hatte er bislang verzichtet. Gewaschen hatte er sich nur ein einziges Mal. Im Grunde lag er ausschließlich auf dem Bett, schaute im Zimmer umher oder glotzte in die Mattscheibe. Der Fernseher lief ohne Unterlass. Nachrichten, Spielfilme, Serien, Quizshows, Politmagazine und Dokusoaps. Jörg Pilawa grinste ihn an, ebenso Günther Jauch und der smarte Markus Lanz.
    Als er gestern Morgen zum Pay- TV -Kanal gewechselt hatte, war plötzlich die Tür aufgegangen, und das Zimmermädchen hatte vor ihm gestanden. In eine hellblaue Arbeitskluft gehüllt, hatte sie ihn mit ihren großen dunklen Augen angesehen. Er hatte sie weggeschickt und das Do-not-disturb-Schild außen an die Tür gehängt.
    Am Nachmittag war er dann in eine Art Depression verfallen. Fies, kurz und heftig. Wie eine Welle hatte sie ihn von den Füßen gehoben. Er dachte, dass es keine Zukunft mehr für ihn gab. Spielte sogar mit dem Gedanken, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Sich mit dem Gürtel in der nach Chlor riechenden Dusche zu erhängen. Doch dann hatte er plötzlich wieder Lebenshunger verspürt und mit ihm den leiblichen. Er hatte mit knurrendem Magen bei einem vietnamesischen Lieferservice angerufen und eine doppelte Portion gebackene Wan Tan mit Chilisoße und zum Hauptgang eine Reisnudelsuppe mit Hühnerfleisch bestellt. Als ein zierlicher alter Mann mit gelblich fleckiger Haut ihm zwanzig Minuten später in radebrechendem Deutsch die bestellten Speisen reichte, hatte er dem Impuls widerstehen müssen, den Vietnamesen hereinzubitten und ihm wie der bezaubernden Heidi zu erzählen, dass … Was eigentlich? Wie es zur Stunde in seiner Wohnung aussah? Dass die Leichenstarre bei der krüppeligen Fátima aller Wahrscheinlichkeit nach inzwischen nachgelassen hatte und der Körper nun zu faulen und sich zu zersetzen begann? Sämtliches Gewebe bis auf die Knochen, die Zähne und die Beinprothese.
    Nachts, wenn er träumte, verwischten Realität und Fiktion. Dann sah er Blut durch Dielen, Estrich und Betonboden sickern und an der Decke bei

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