Die Stunde des Löwen
Zufall.«
»Was ist ein merkwürdiger Zufall?«
»Ich untersuche, wie Hugo Bruckner ums Leben kam, befrage seine frühere Sekretärin und seine Nachbarin, und dann stellt sich raus, dass die beiden miteinander verwandt sind.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was daran merkwürdig und vor allem zufällig sein soll.«
»Na, dass ausgerechnet die Tante der Sekretärin neben dem Ferienhaus des Chefs wohnt.«
»Das ist doch kein Zufall.« Liliana Bode wischte sich mit dem Fäustling die Schneeflocken von ihrer Daunenjacke. »Was glaubst du denn, wie ich damals an den Job gekommen bin?« Als er mit den Schultern zuckte, fuhr sie fort: »Durch Vitamin B. Durch die Vermittlung von Tante Vera. Sie und Amelie Bruckner sind sich früher manchmal am Seeufer begegnet. Kamen ins Gespräch. Tante Vera hat erwähnt, dass ich auf Jobsuche bin. Und da hat Amelie Bruckner angeboten, dass ich mich im Bestattungsunternehmen vorstellen kann.«
»Wusstest du bei unserem letzten Treffen, dass ich auch deine Tante befragt habe?«
»Nein, das hab ich erst vorhin erfahren. Leider komm ich nicht so häufig dazu, Tante Vera zu besuchen. Heute warâs mal wieder so weit. Hab ihr ein paar Einkäufe vorbeigebracht. Da hab ich deine Visitenkarte auf dem Tisch liegen sehen.«
*Â *Â *
Als sie die Lampe am Alibertschränkchen anknipste, begann die Neonröhre wie wild zu flackern. Das bedrohlich tiefe Brummen, das das Blitzlicht begleitete, nährte in ihr den Verdacht, dass die Leuchte bald den Geist aufgeben würde. Vielleicht sollte sie Liliana bitten, im Baumarkt vorsorglich eine neue zu besorgen.
Die linke Hand auf den Waschbeckenrand gestützt, fuhr sich Vera Kaczorowski mit dem Waschlappen ein paarmal übers Gesicht. Ihr linkes Auge brannte, als es mit dem nach Lavendel duftenden Seifenschaum in Berührung kam. Nachdem sie die Nachtcreme aus Johanniskrautöl und Sheabutter aufgetragen hatte, machte sie sich daran, die Zahnprothesen aus dem Mund zu nehmen. Eine allabendliche Prozedur, die nur bei der oberen auf Anhieb gelang. Am rechten Unterkiefer hingegen hakte das vermaledeite Ding immer ein wenig.
Als sie nach zwei ergebnislosen Anläufen endlich auch die untere Schiene zwischen ihren Fingern hielt, bemerkte sie im Spiegel den glasigen Speichelfaden, der sich quer über ihr eingecremtes Kinn gelegt hatte. Alt zu sein ist wahrlich keine Freude, jammerte sie in Gedanken und bückte sich nach dem Handtuch über der Badewanne. Dabei streifte ihr Blick das Fenster. Nanu. Was war das? Spielten ihr nun auch noch ihre Sinne einen Streich, oder hatte sie gerade das Aufblitzen eines Lichts gesehen? Drüben, am Ufer des Sees. Irritiert trat sie ans Fenster. Mit dem Ãrmel ihres Bademantels rieb sie über die beschlagene Scheibe. Dann spähte sie nach drauÃen. Tatsächlich. Es bestand nicht der Hauch eines Zweifels. Hinter den Fenstern bei den Bruckners tanzte ein schmaler Lichtkegel auf und ab. Wer zum Teufel konnte das sein? Jonas Fremden, der scheue Detektiv? Nachts? Ein Reiter? Sie stieà ein heiseres Lachen aus. Reiter, Reiter, Reiter. Er hatte bestimmt ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt, als sie das gesagt hatte. Doch das da drüben war nicht der Detektiv, der hatte Bruckners Erlaubnis und würde tagsüber kommen. Aber wer konnte sich sonst dort herumtreiben? In dem verlassenen und verwahrlosten Haus. Ein Landstreicher? Nein, so einer verirrte sich nicht hierher bei den Temperaturen. Und für einen Vandalen war derjenige zu leise. Ihr stockte der Atem, als ihr eine vierte Möglichkeit einfiel. Jemand, der einfach so Leute im Wald â¦
Ihre Hände zitterten, als sie das Licht ausschaltete. Was, wenn das bereits zu spät war? Wenn der Meuchelmörder längst beschlossen hatte, zu ihr herüberzukommen? Die Polizei zu alarmieren war zwecklos. Bis die ihr Haus erreicht hätten, wäre sie tot. Im Grunde gab es nur eins: Sie musste hier raus. Im finsteren Wald konnte sie sich verstecken.
Mit klopfendem Herzen grapschte sie nach ihren Kleidern auf dem Schemel. Hastig streifte sie sich Strumpfhose, Rock und Kittelschürze über. Erst danach fiel ihr auf, dass sie den Schlüpfer und den Büstenhalter vergessen hatte. Im Flur stieg sie in die Stiefel und schnappte sich den Lodenmantel von der Garderobe. Doch kurz vor der Haustür kehrte sie noch mal um. Die Dielen ächzten, als sie in die
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