Die Stunde des Raben
Lanzen oder Angeln verwendet. Es könnte auch als Achsenholz benutzt worden sein, Fi! Fest und biegsam, das passt! Und der Stab des Druiden war vielleicht auch aus Stechpalme. Und der diente doch als Achse des Streitwagens, mit dem Aili und Brae ihre Mutter gesucht haben. Das passt alles!«
»Aber was ist dann die Geburtsstunde des Artefakts?«, flüsterte sie zurück.
Statt zu antworten, griff No in seinen Beutel, den er unter dem Hemd trug, und fasste nach seinem Fragment.
»Achsenholz!«, murmelte er. »Zeig uns, was aus dir geworden ist!«
»Bist du verrückt?«, fuhr Filine ihn an. »Doch nicht hier, wir sind mitten auf dem Flutmarkt!«
No zuckte zusammen. »Oh, Mann, Mist! Du hast recht, aber ich …«
Es war schon zu spät.
Die Flut kehrte tatsächlich zurück. Aber nicht mitten auf dem Markt. An einem Fenster mit grünen Holzläden über einer Säulenreihe am Rande des Dogenhofs rannten plötzlich Aili und Brae vorbei. Hinter ihnen erhoben sich dunkel einige Bäume.
»Weg hier!«, zischte Filine No zu. »Aber schnell!« Sie packte Rufus am Ärmel. »Unser Telefonat ist da, los, Rufus, komm mit!«
Coralia sah auf. Sie bemerkte die Blicke von Filine und No und grinste, vermied es aber, ihnen zu folgen.
Rufus, Filine und No rannten los.
»Viel Erfolg, Rufus!«, rief Coralia ihm nach. »Mach dir keine Sorgen. Ich zeige deiner Mutter solange hier alles, wenn sie möchte!«
Rufus hörte sie nicht mehr. Er flog hinter Filine her, die ihn am Ärmel gepackt hielt und eine Treppe hochraste, die vom Hof aus direkt in den ersten Stock führte.
Die Lehrlinge hatten Glück. Niemand außer Coralia hatte bemerkt, was passiert war, und keiner der Akademiker auf dem Markt sah in diesem Moment nach oben zu dem kleinen Fenster.
No kam als Erster auf dem obersten Treppenabsatz an. Er stieß die Tür auf. Filine und Rufus folgten ihm auf dem Fuß.
»Da!« No zeigte vor sich.
Die Lehrlinge standen in einem dichten Wald. Und dort waren auch Brae und Aili. Sie knieten auf dem Boden. Hinter ihnen stand der Streitwagen. Und daneben lag Königin Boudicca.
Filine schloss die Tür hinter sich. Dann rannte sie zum Fenster und zog die grünen Holzläden vor.
Erstaunt sah Rufus’ Mutter ihrem Sohn nach.
»Was soll denn das bitte?«
Coralia lachte. »Die Neuen sind immer besonders ehrgeizig«, erklärte sie. »Aber sie haben heute auch ein wirklich wichtiges Telefonat zu leisten. Sie haben es ja gehört.«
Rufus’ Mutter nickte. »Ja, eine Gesprächsübung mit einer chinesischen Schule. Dieses Internat scheint wirklich über vorzügliche Verbindungen zu verfügen.«
»Natürlich!«, gab Coralia zurück. »Das sieht man übrigens mitunter auch hier auf dem Flohmarkt. Das sind alles Sachen, die aus der ganzen Welt von ehemaligen Schülern und den Eltern gestiftet werden. Die schicken sogar ihre Hausangestellten her, um das hier zu verkaufen.«
»Ach ja?« Neugierig geworden sah sich Rufus’ Mutter um.
»Ja, sicher!« Coralia seufzte theatralisch. »Schade, dass meine Eltern heute nicht kommen konnten. Die sind nämlich Antiquitätenhändler und grasen regelmäßig solche Märkte ab. Es gibt immer wieder Schätze zu finden, wenn man sich auskennt. Aber was erzähle ich Ihnen, das interessiert Sie bestimmt gar nicht.« Sie warf Rufus’ Mutter einen prüfenden Blick zu. »Rufus ist jedenfalls einer der Besten hier. Er hat richtig viel Talent.«
»Ist das so?«, fragte Rufus’ Mutter.
»Ganz bestimmt.«
Coralia lächelte dunkel. Sie warf einen Blick über die Stände.
»Wirklich schade, dass meine Eltern nicht hier sind. Ich wollte ihnen so gerne etwas zeigen. Sie kennen sich nicht zufällig mit Antiquitäten aus, oder?«
Rufus’ Mutter schüttelte den Kopf. »Für mich sieht das alles eher nach Ramsch aus.«
»Ja, das meiste ist ja auch wertlos. Aber mein Vater hat mir beigebracht, immer ein waches Auge auf solchen Flohmärkten zu haben. Es rutschen viel mehr Kostbarkeiten zwischen den Krimskrams, als man meinen möchte. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas – wenn Sie wollen?«
»Na ja«, Rufus’ Mutter sah auf ihre Armbanduhr. »Bis zur Rede des Direktors ist es noch etwas hin. Und mein Sohn ist ja wohl erst mal verschwunden.«
»Dann kommen Sie!«
Coralia drehte sich um. Um ihre Lippen spielte ein zufriedenes Lächeln. Sie führte Rufus’ Mutter einmal quer über den Markt, bis in eine etwas dunklere Ecke, in der ein Händler aus Kirgistan seinen Stand aufgebaut hatte. Er bot vor allem Dinge aus Silber
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