Die Stunde des Raben
entwickeln.«
Rufus zog es bei dieser Vorstellung den Magen zusammen. »Pssst!«, zischte er No und Filine unwillig zu.
Gino Saurini zupfte an seiner Krawatte.
»Gleichzeitig ist es unsere Pflicht, uns als Akademiker mit dieser Seite des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen. Wir haben zu studieren, was ein Ding in der Welt wert ist. Wir müssen lernen, für wie viel Geld wir ein Artefakt verkaufen können, und wir müssen die Wege herausfinden, auf denen wir dies unauffällig tun können. Kein Käufer sollte mehr als einmal von demselben Händler eines unserer Artefakte erwerben. Die Kanäle müssen dunkel und unübersichtlich bleiben. Unsere Arbeit in dieser Beziehung ist ein Handeln im Verborgenen. Und doch ist das Prinzip, dem wir folgen, das Gesetz des Marktes. Und wir haben den Markt für unsere Artefakte gefunden. Es ist ein ganz besonderer!«
Die Stimme des Direktors nahm einen fröhlichen Klang an und er lächelte den beiden blonden Schwestern Charlotte und Emily zu.
»Kein von Menschen geschaffener Ort ist schneller da, keiner ist unübersichtlicher und keiner ist schneller wieder verschwunden als dieser Markt. Er bietet keine festen Geschäftsräume, er wandert, er kann heute hier und morgen nicht mehr vorhanden sein. Er ist der beste Orte für uns – der Flohmarkt.«
Die beiden Schwestern klatschten, und wieder kicherten viele der Lehrlinge. Dann rief ein vorlauter Geselle: »Der Flutmarkt!«
Saurini nickte. »So nennen wir ihn, Borgos, aber offiziell bleibt es beim Flohmarkt. Solche Märkte gibt es auf der ganzen Erde. Es gibt sie in Küstenstädten, an Oasen, in der Wildnis und in den tiefsten Niederungen der Metropolen. Diese Märkte sind voller Gerümpel, und dieses Gerümpel ist voller Geschichte. Wer kann voraussehen, wann an einem solchen Ort ein besonders kostbares oder antikes Artefakt wie aus dem Nichts auftaucht?
Niemand!
Und doch haben Kunst- und Raritätensammler schon immer an diesen Orten nach Schätzen gesucht. Es ist ein Ort, an dem die Antiquitätenhändler nach Kostbarkeiten jagen, an dem die Privatsammler, die Kundigen und auch die Gierigen auf der Suche sind … Manche kommen, weil sie nach ahnungslosen Opfern suchen, die ihnen billig etwas verkaufen. Andere möchten nur einen Schatz finden, für den sie gerne bezahlen wollen. Manche halten einfach nur Ausschau mit dem Herzen. Sie alle aber sind es, nach denen wir suchen. Unter ihnen müssen wir die richtigen Käufer für unsere Artefakte finden. Und deswegen –«
»Die Händler!«, seufzte ein Mädchen mit einer seltsamen Turmfrisur. »Sie sind so cool!«
Direktor Saurini hob eine Augenbraue. »Die Akademie«, setzte er wieder an, »hat deswegen eine Gruppe von Händlern ausgebildet und aufgebaut, die quer durch die Welt reisen, die auf den Märkten auftauchen und unter alltäglichem Gerümpel, Wohlstandsmüll und Haushaltsauflösungen dann und wann eine alte Kostbarkeit auftauchen lassen. Die Händler sind alle ehemalige Akademiker, die dieses moderne Nomadenleben gewählt haben. Keiner von ihnen ist öfter als alle vier Jahre auf ein und demselben Markt zu finden. Und etwa einmal im Jahr kommen einige von ihnen zu uns in die Akademie und versammeln sich hier auf dem Gelände zu einem einmaligen Markt, den bereits die Gebrüder Micheluzzi begründet haben. Und wie Borgos es vorhin schon richtig bemerkt hat, nennen wir diesen Markt Flutmarkt. Für Außenstehende aber ist es nur ein großer, internationaler Flohmarkt. Was aber ist nun eure Aufgabe dabei? Denn natürlich hat der Markt hier bei uns seinen Grund und Zweck!«
Der Direktor ließ seinen Blick über die Lehrlinge und Gesellen schweifen und richtete ihn dann auf Rufus, Filine und No.
»Nun, die Aufgabe ist einfach, aber nicht zu unterschätzen. Der Markt ist öffentlich zugänglich, jeder Besucher kann auf ihm einkaufen. Und jeder von euch hat sich deswegen eines der im Besitz der Akademie befindlichen Artefakte aus den Gewölben anzunehmen. Ihr werdet sie gleich ausgeteilt bekommen. Dann müsst ihr das Artefakt auf seine Art und auf seinen Wert bestimmen. Die Händler kommen in wenigen Tagen zu uns. Dann wird jeder von euch sein Artefakt einem von uns Meistern ausgewählten Händler zum Verkauf übergeben und mit ihm vollkommen frei und eigenständig den Preis aushandeln, den es für die Akademie erzielen soll. Ihr könnt dafür verlangen, was ihr wollt. Eure Aufgabe ist vor allem, die Gesetze des Handels zu erlernen. Am Sonntag finden dann der Markt und der
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