Die Stunde des Raben
die man durch die Luft schleudern kann.«
No schluckte. »Das ist gut«, sagte er. »Das passt!«
»Natürlich«, erwiderte das dunkelhaarige Mädchen. »Und jetzt viel Glück mit deinem kleinen Eierbecher. Wenn du damit fertig bist, kannst du dich ja wieder den Speeren zuwenden. So, wer ist dran?«
No nickte und trat schweigend zur Seite.
»Hallo Rufus!« Coralias falsches Lächeln war plötzlich wie weggewischt und sie sah ihn freundlich an. »Hat Spaß gemacht, das Ludere raptim mit dir.«
»Äh, ja«, stotterte Rufus. Warum war Coralia nur so gemein zu No gewesen? Und was wollte sie jetzt von ihm? Er wappnete sich ebenfalls für einen fiesen Angriff.
Stattdessen fragte Coralia ganz zahm: »Und, hast du schon über deinen Wettgewinn nachgedacht?«
Sie zog das große Buch zu sich heran und blätterte darin.
Rufus schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«
»Ich finde, das solltest du aber!« Coralia tippte mit dem Zeigefinger in eine Spalte, nickte und schickte dann Anselm zu einem der Regale. Der Lehrling kam mit einem großen, fast runden weißen Stein zurück. Er gab ihn Coralia und sie legte ihn vorsichtig auf den Tresen. Dann sagte sie leise:
»Wenn du dir noch nicht sicher bist, kannst du trotzdem mal zu mir kommen. Mein Zimmer ist im vierten Trakt. Wenn du von deinem Gang aus die Rampe zwei Umdrehungen nach oben gehst und dann den Südgang nimmst, liegt mein Zimmer, hinter dem kleinen Saal mit den Goldfragmenten. Du bist mir jederzeit willkommen.« Sie lächelte ihm zu.
Rufus hörte, wie Filine hinter ihm leise schnaubte.
»Äh, ja, danke …«, sagte er laut zu Coralia und griff nach dem Stein.
»Gerne, Rufus«, sagte das dunkelhaarige Lehrlingsmädchen wieder. »Ich helfe dir auch sonst gerne. Und ich kann dir bestimmt bei allem besser von Nutzen sein als deine beiden Frischlingsfreunde!« Sie zögerte kurz. Dann sah sie Rufus direkt ins Gesicht. »Ganz bestimmt sogar, Rufus! Ich habe gehört, was du und Meister Spitznagel gestern früh besprochen habt. Und ich kenne mich da aus …«
Rufus sah Coralia unsicher an. Sie hatte gehört, wie er mit Meister Spitznagel gesprochen hatte? Über was? Über seinen Traum! Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Jetzt wurde ihm plötzlich einiges klar. Deswegen hatte Coralia diese komische Nummer beim Sport abgezogen. Weil sie gehört hatte, dass er von … einem Wassertrog geträumt hatte. Aber was vermutete sie dahinter? Woran dachte sie? Und was hatte das alles mit Minster zu tun, die ihm auch schon zweimal irgendwelche Hinweise hatte geben wollen? Rufus konnte das alles nicht einordnen. Aber er wollte Coralias Angebot auch nicht blindlings ausschlagen. Sie wusste wirklich viel, wie sie No gegenüber gerade wieder bewiesen hatte, und vielleicht würde Rufus ihre Hilfe tatsächlich benötigen, obwohl es ihm wirklich nicht gefiel, wie sie über Filine und No sprach …
Rufus sah sie an. In Coralias dunklen Augen funkelten zwei helle Punkte wie unheimliche weiße Sterne. Kurz entschlossen griff er nach dem Stein und rollte ihn vorsichtig zu sich herum.
»Danke, aber … ich glaube, das überlege ich mir erst noch mal.«
»Ganz wie du willst, Rufus.«
»Äh, ja!« Er nahm sein Artefakt in die Hand. »Was ist denn das überhaupt?«
Coralia zuckte die Schultern. »Sieht aus wie der Kopf einer Statue.«
Rufus nickte automatisch. Was er bis eben für einen Stein gehalten hatte, entpuppte sich beim Umdrehen tatsächlich als Teil einer Skulptur. Ein Kopf aus weißem Marmor. Es war das Gesicht einer Frau. Einer wunderschönen Frau, um deren Stirn sich dichte Locken wanden. Darunter sahen ihn die Augen einer leblosen Statue an. Und doch kam es Rufus vor, als würden diese Augen sich jeden Moment mit Leben füllen können. Und obwohl er genau wusste, dass dieser Kopf nicht das Gesicht seiner Mutter war, weckte es plötzlich und unglaublich lebendig seine Erinnerung an sie.
Rufus schluckte.
Neugierig starrte Coralia ihn an. »Ist alles in Ordnung? Ich habe nicht extra nachgesehen, aber der Kopf ist technisch sehr gut gemacht, und ich dachte, so eine wertvolle Arbeit wäre für dich ein gutes Objekt für den Flutmarkt. Damit kannst du vernünftig handeln! Gefällt er dir?«
»Ja«, nickte Rufus und sah immer noch den Kopf an. Eigentlich wollte er es nicht sagen, aber dann rutschte es ihm doch heraus: »Danke, Coralia! Er ist wirklich wunderschön.«
»Habt ihr es jetzt vielleicht mal endlich?« Hinter ihm trat Filine unruhig von einem Fuß auf den
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