Die Stunde des Raben
stand.
»Willkommen in den Gewölben!«, rief er, als er sah, das auch die letzten Nachzügler eingetroffen waren.
Das leise Gemurmel der Wartenden verstummte. Der kleine und etwas dickliche Direktor trug einen abgewetzten grünen Anzug und eine seidig schimmernde dunkelblaue Krawatte mit goldenen Streifen. Wie immer stand sein ungekämmt wirkendes Haar in steilen Büscheln über den Ohren nach oben, und sein rundes Gesicht strahlte vor Energie.
»Es ist mir eine große Freude, euch alle heute hier begrüßen zu dürfen. Die Erfahrenen unter euch wissen, was eine Versammlung in den Gewölben bedeutet.«
Einige der Gesellen und Lehrlinge nickten, und ein Mädchen mit langen blonden Haaren und einem französischen Akzent rief kichernd: »Der Markt! Weißt du noch, Charlotte?!«
Sie sah zu einem zweiten blonden Mädchen, das neben ihr stand. Beide waren schlank und hochgewachsen und sahen einander auch sonst recht ähnlich.
»Was weckt diesen Anfall von Heiterkeit in dir, Emily?«, erkundigte sich Gino Saurini.
Das Mädchen wurde rot und sah hilfesuchend ihre Schwester an, um die es sich bei dem zweiten blonden Mädchen offensichtlich handelte.
»Ach, nichts«, sagte Charlotte schnell. Sie hatte glatte, halblange Haare und sprach auch mit einem leichten französischen Akzent. »Unser Vater hat letztes Mal, ohne es zu merken, eine echt wertvolle antike Brosche für unsere Mutter gekauft. Er fand sie nur hübsch. Und unsere Mutter war total überrascht, als sie dann bei einem Opernbesuch ein Kunstkenner darauf angesprochen hat, wo sie so ein seltenes Stück herhätte. Seitdem glaubt unser Vater, er hätte ein Näschen für Kunst und kauft auf Flohmärkten allen möglichen Schrott in der Annahme, es sei bestimmt wieder etwas Wertvolles. Und dann muss unsere Mutter das ganze Zeug immer in den Müll werfen …«
Die beiden Schwestern blickten sich an und verzogen grinsend die Münder.
»Eine überaus lehrreiche Geschichte, was unsere heutige Zusammenkunft anbelangt«, urteilte Direktor Saurini. »Aber«, fuhr er fort und wandte sich direkt an Rufus, Filine und No, »heute sind auch unsere drei Frischlinge zum ersten Mal hier. Darum seien mir einige erklärende Worte erlaubt.«
Der Direktor hob eine Hand und deutete in die Gewölbe hinter sich. »Ihr habt sicher schon bemerkt, dass in den Gewölben eine ganz besondere Atmosphäre herrscht. Sie dienen auch einer ganz besonderen Aufgabe. Sie sind der Ort, an dem wir die Artefakte, die sich in den historischen Fluten offenbart haben, aufbewahren. Abgesehen natürlich von der Aula, wo wir die neuesten Artefakte zeigen, damit wir uns alle zusammen an ihnen erfreuen können.
Doch hier unten hat es mit den Artefakten noch etwas anders auf sich. Es ist vorgekommen, nicht immer, aber mitunter, dass die Akademiker ein Artefakt zu schnell nach seinem Auftauchen in die Welt gebracht haben. Viele von euch kennen die Geschichte, was passiert, wenn man in Höhlen eindringt, die luftdicht verschlossen waren und in denen sich jahrtausendealte Wandmalereien befinden. Die eindringende Luft zerstört dann die Fresken vor den Augen der Entdecker.
Und etwas Ähnliches«, sagte Direktor Saurini nachdenklich, »kann unseren Artefakten passieren, wenn wir sie zu schnell in die Welt bringen. Sie können sich auflösen und zu Staub zerfallen. Nicht alle Artefakte reagieren so. Aber aus Vorsicht haben wir beschlossen, dass wir sie zuerst eine Zeit lang in den Gewölben lagern, bevor wir sie in die Welt bringen. Hier können sie in Ruhe die nötige Stabilität gewinnen. Mit diesem Phänomen haben sich bereits die frühen Nachfolger der Brüder Micheluzzi beschäftigt. Der erste Akademiker, der ausführlich davon berichtete, war Meister D’Assani, ein Handwerker aus Bologna, der im 17. Jahrhundert die Akademie für einige Jahre leitete. Aufgrund seiner gewissenhaften Forschungen zeigte sich, dass ein Artefakt nach sieben Monaten in der Akademie keine Gefahr mehr läuft, in der Welt einfach wieder zu verschwinden.«
Rufus hörte dem Direktor gespannt zu. Was er hier erfuhr, war ihm neu, und er fragte sich, wie es den Akademiemitgliedern gegangen sein musste, als sie das erste Mal ein Artefakt, das sie in einer Flut mühsam erforscht hatten, unter ihren Händen zu Staub zerfallen sahen.
»Das ist ja ein Hammer!«, entfuhr es No neben ihm.
Einige Lehrlinge kicherten, und Saurini blickte auf.
»So könnte man es vielleicht nennen, No wie so. Aber im Grunde genommen ruft uns dieses Phänomen
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