Die Stunde des Raben
Mutter in seinem Lederbeutel trug. Und Filine hatte ihn davor bewahren wollen. Das war eine echte Freundschaftstat. Auch wenn er nicht wusste, was er wirklich von Coralia zu halten hatte. Er blickte auf Filines ausgestreckte Hände und zögerte. Hatte Coralia nicht auch gesagt, dass sie ihm helfen wollte? Auf ihre Art und Weise natürlich, und bei etwas, von dem er nicht wusste, um was es ging. Rufus stöhnte innerlich auf.
»Bitte, Rufus!«, sagte Filine eindringlich. »Ich brauche jetzt deine Hilfe, sonst hat Coralia mich voll drangekriegt. Ich kann diese Kiste nicht alleine tragen! Und das weiß sie. Sie hat sie mir doch nur deswegen gegeben, weil sie darüber lachen will, wie ich mich damit abmühe.«
Rufus sah auf und blickte zu Coralia, die Filine höhnisch anstarrte. Dann sah er Filine an. Er nickte, legte den Kopf in Filines Hände, ging zu No und packte den zweiten Griff der Kiste.
»Auf drei!«, sagte No.
»Ihr Trottel!«, zischte Coralia. »Ihr müsst wirklich noch viel lernen.«
Rufus hörte nicht auf sie. Er hörte nur Nos Stimme, der bis drei zählte. Dann hoben sie Filines Flutmarkt-Artefakt an.
Die Truhe war nicht nur höllisch schwer, sondern auch riesengroß und sperrig. Die beiden Lehrlinge schafften es kaum, sie vom Tisch zu heben. Der Kasten schwankte zwischen ihnen wie ein Schiff in Seenot und drohte, sie von den Beinen zu holen.
»Hammer!«, keuchte No.
Rufus grunzte zustimmend. Schritt für Schritt machten sie sich auf den Weg aus den Gewölben.
»Bringt sie am besten in die Bibliothek«, meinte Filine, die mit dem Schlüssel in der Hand und Rufus’ Steinkopf hinter ihnen herlief. »Wir werden sowieso da nachlesen müssen, was diese Sachen wert sein könnten.«
»Klar, Fili!«, stöhnte No. »Super Idee! Weiter weg geht nämlich nicht. Das Ding wiegt Tonnen! Das ist Selbstmord, das bis da oben zu schleppen. Können wir es nicht irgendwo hier abstellen?«
»Zuerst müssen wir aus Coralias Blickfeld verschwinden«, sagte Filine ruhig. »Den Triumph, dass du aufgibst, wirst du ihr hoffentlich nicht gönnen.«
»Okay!« Mit zusammengebissenen Zähnen trugen Rufus und No das Artefakt bis zum Treppenaufgang. Dann ließ No das schwere Stück so vorsichtig er konnte ab. Auf der anderen Seite folgte Rufus seinem Beispiel.
»Können wir sie nicht einfach hier stehen lassen?«, schlug No vor. Aber Filine war unerbittlich. »Niemals!«
»Aber hier klaut doch keiner was, Fi!«, jammerte No.
»Coralia hat mich trotzdem gewarnt. Sie hat extra darauf hingewiesen, dass ich für dieses Artefakt bis zur Übergabe an den Händler die Verantwortung trage.«
»Damit hat sie einfach gemeint, dass du eben gut darauf aufpassen sollst«, murrte No. Dann fragte er plötzlich: »Was war das eigentlich zwischen Coralia und dir?«
Die 94. Urenkelin Anchetcheprures sah ihn aus ihren grünen Augen scharf an. »Ich glaube, dass müssen wir eher Rufus fragen. Ich habe den Eindruck, dass Coralia irgendwas von ihm will!«
»Ja?«, rief No neugierig und ließ sich auf die Truhe fallen. »Stimmt, du hast recht! Sie hat schon gestern Morgen beim Ludere raptim so lange mit dir und dem Ball rumgemacht. Das sah irgendwie merkwürdig aus. Früher in der Schule hätte ich gesagt, die ist … äh, sie ist hinter dir her, Rufus!«
Filine schnaubte. »Du meinst doch wohl nicht, Coralia ist in Rufus verknallt?«
»So ein Quatsch!«, beeilte Rufus sich zu sagen.
»Aber wieso eigentlich nicht?«, überlegte Filine weiter. »Hast du da vielleicht eine Verehrerin gewonnen?«
»Ich weiß nicht, warum sie auf einmal so nett zu mir ist«, wehrte sich Rufus. »Sie will dauernd, dass wir was zusammen machen. Vielleicht denkt sie, wir könnten zusammen besonders gut eine Flut meistern.«
Filine nickte. »Ja, manche Mädchen mögen das, wenn Jungen sie im Sport schlagen, dann wollen sie plötzlich von ihnen beschützt werden.«
»Aber ich habe sie doch gar nicht geschlagen«, platzte Rufus heraus und hielt dann inne.
»Na, wie willst du das denn sonst nennen?«, lachte No. »Du hast es ihr wirklich ganz schön gezeigt! Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht gedacht, dass du sie so ausspielen könntest. Aber vielleicht hast du sie ja auch mit deinem extrem guten Aussehen nervös gemacht.«
Rufus rollte mit den Augen. »Hört schon auf!«
Schnell fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. So geschickt Coralia es auch eingefädelt hatte, seinen Freunden war ihr Verhalten auch aufgefallen. Für eine Sekunde erwog er, ihnen alles zu
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