Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
beiden soll sterben? Keine einfache Entscheidung, aber die Zeit drängt. Wenn du dich nicht entscheidest, sterben beide. Du hast zehn Minuten.
Verstand Tretyak alias Patrick von Kattenberg den Kern der SMS? Verstand er die Anspielung auf den Großvater, dessen Spezialität es gewesen war, Müttern in den Konzentrationslagern genau diese Frage zu stellen, welches deiner Kinder soll leben, welches sterben? Der Großvater hatte zugesehen, wie die Frauen an dieser Entscheidung zerbrachen, ganz gleich, ob er sie am Ende überleben ließ, ganz gleich, welches der Kinder oder ob er alle in den Tod schickte. Erinnerte sich Patrick von Kattenberg an seinen Ahnen?
Er wählte die Nummer seines Sicherheitschefs, den er zu der exklusiven Privatschule geschickt hatte, die seine Söhne besuchten, James und Hadley, mit den auffallenden Sommersprossen und den leicht abstehenden Ohren. Natürlich ging der Sicherheitschef sofort ans Telefon, nach dem zweiten Läuten, wenn der Boss anrief.
»Wie geht es meinen Kindern?«
»Alles bestens, meine Leute lassen sie keine Minute aus den Augen. Sie sind vergnügt wie immer. Machen Sie sich keine Sorgen, Mr Tretyak.«
»Ich habe Hinweise, dass möglicherweise ein Anschlag unmittelbar bevorsteht. Sie sind mir persönlich für die Sicherheit meiner Söhne verantwortlich.«
»Ich werde alles veranlassen. Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben alles unter Kontrolle.«
Es war genau 14 Uhr 22, als die zweite SMS kam: Keine Entscheidung. Schade. Du trägst die Verantwortung.
Gegen 15 Uhr 30 kam ein Anruf, Hadley habe ein bisschen gehustet. Er habe auch ein klein wenig Fieber. Eine Stunde später hieß es, man sei mit ihm auf dem Weg ins Krankenhaus, er habe etwas Blut gehustet, das Fieber steige, die Klinik sei eine reine Vorsichtsmaßnahme. Zwei weitere Stunden später hieß es, der Zustand habe sich dramatisch verschlechtert, die Ärzte könnten die inneren Blutungen nicht stoppen.
Am frühen Abend kam die Nachricht, auch der kleine James habe nun angefangen zu husten. Er kam schon in die Klinik, bevor seine Blutungen begannen. James’ Blutungen waren noch heftiger als Hadleys. Die Ärzte sprachen von Vergiftung. Der aufgelöste Sicherheitschef sagte, es sei möglicherweise bei der alljährlichen Grippeimpfung am Morgen passiert. Man habe den Schularzt gefesselt im Keller gefunden, ein Unbekannter sei bei der Impfung in die Rolle des Arztes geschlüpft, die Polizei ermittle auf Hochtouren.
Als Patrick von Kattenberg am Abend mit dem Hubschrauber zu seinen sterbenden Kindern gebracht wurde, kam auf dem Flug die dritte SMS: Erinnerst du dich? ›Gewidmet unseren Nachkommen‹.
Hatte Herr von Kattenberg jetzt begriffen?
Teil 4
Die Stunde des Reglers
1
Fragen
Er gefiel ihm sehr, mit dieser Frauenstimme zu sprechen. Seine Identität hatte sich aufgelöst, es gab ihn praktisch gar nicht mehr. Passt gut, dachte er, das glauben sowieso alle.
Einige Texte hatte er schon vorher aufgenommen, sie existierten jetzt als kleine Dateien, er sah sie auf dem Laptop vor sich, jede hatte eine Überschrift. Er musste nur draufklicken – und schon begann die Frauenstimme zu sprechen. Der Ton wurde mit einer recht altertümlichen Gegensprechanlage in den anderen Raum übertragen.
Er hatte sich Mühe gegeben mit den Texten, auf manche war er fast ein bisschen stolz. »Muttersöhnchen« zum Beispiel, den würde er Tretjak heute ganz bestimmt vorspielen.
Er konnte aber auch direkt mit ihm sprechen. Dann klickte er »Live« an und sprach in das Mikrophon des Laptops. In diesem Fall kam die Frauenstimme mit einer kleinen Verzögerung. Er hatte das geübt und beherrschte es inzwischen so perfekt, dass beim Übertragen so gut wie nie Fehler passierten. Wichtig war, dass man das Ende eines Satzes deutlich markierte, indem man durch die Betonung quasi einen Punkt machte. Oder ein Fragezeichen, je nachdem.
Der Schreibtisch, an dem er saß, stand in einer Art Besprechungsraum. Drei Stuhlreihen, kleine Schreibpulte an den Lehnen. Whiteboards an den Wänden. Alles war von einer feinen Staubschicht bedeckt. Nur den Schreibtisch hatte er abgewischt und den großen alten Bildschirm, der mit einem schweren Stahlgelenk an der Wand angebracht war. Er hatte den Raum komplett abgedunkelt, alle Rollos waren unten, nur die kleine Schreibtischlampe brannte. Womit sollte er anfangen? Er fuhr mit der Maus über die Dateien, schließlich klickte er eine an und hörte die überaus zuvorkommende Stimme, die seine
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