Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
sondern ließ sie mit dem Kaffee und dem Gebäck allein. Nach zehn Minuten kam er wieder, in Begleitung einer hübschen jungen Frau in einer schwarzen Lederjacke. In ihrer Hand klingelte ein Schlüsselbund: »Buongiorno, Signora Welterlin«, sagte sie freundlich. »Ich bin Patricia, kommen Sie, ich bringe Sie in ihre Wohnung.«
Sophia Welterlin nahm ihre Handtasche, die Plastiktüte mit ihrem Geburtstagsgeschenk und folgte der Frau nach draußen zu einem kleinen, hellblauen Fiat Cinquecento.
»Vielen Dank für die Mahlzeit«, sagte sie in Richtung Eingangstür, wo Luigi stehen geblieben war. »Hat gut getan. Bin ich etwas schuldig?«
Kurzes, nur angedeutetes Kopfschütteln: Nein. Aber dann ein kleines Lächeln, das Zuversicht ausstrahlte. Und das erste Wort. »Ciao.«
Der Cinquecento kletterte einige steile Kurven in die Berge hoch, die nette Patricia plapperte über das schlechte Wetter, so schade, letzte Woche war es noch so schön. Schließlich tauchte aus dem Nebel ein ziemlich hässliches, relativ neues Gebäude auf, und sie hielten davor an. Es war ein Apartmenthaus mit etwa zwanzig kleinen Balkonen, die alle in die gleiche Richtung zeigten, vermutlich zum See. Heute war da nur eine hellgraue Nebelwand zu sehen. Wahrscheinlich Ferienwohnungen, dachte Sophia Welterlin, jetzt im November leer.
Das Apartment war sauber, hatte einen Fernseher, und auf dem Balkon standen zwei Liegestühle. Patricia drehte die Heizung auf und versprach, mit Lebensmitteln und Getränken zurückzukehren. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Sophia Welterlin setzte sich aufs Bett und dachte an ihren ersten Besuch hier am See. Er schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Was war geschehen? Warum hatte Tretjak Alarm geschlagen? In welche Situation hatte er sie gebracht?
Wie aus einem anderen Leben kam es ihr vor, wie sie in der warmen Herbstsonne, mit dem Strohhut auf dem Kopf, zu Gabriel Tretjaks Häuschen hochgestiegen war. Neugierig auf den Bruder von Luca, neugierig auf den Mann, den er ihr kaum beschrieben hatte. Nur so viel hatte er sie wissen lassen: »Er ist ganz anders als ich.« Dabei hatte sie dann, schon in der ersten Minute ihrer Begegnung, eine gewisse Ähnlichkeit festgestellt, glaubte sie jedenfalls.
Luca. In keinen anderen Mann hatte sie so viele, so verschiedene Gefühle investiert, um keinen Mann hatte sie so viel geweint. Luca, der Seelenverwandte. Aber auch der Unbegreifbare, der Mann von einem fremden Planeten, dem sie nicht hatte folgen können. Vielleicht war nie ein Mensch so ehrlich zu ihr gewesen wie Luca. So verzweifelt ehrlich, trotz seiner Sprachlosigkeit.
Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, in ihrem ganzen Leben, an welcher Stelle würde sie etwas anders machen?
Das Feuer der Zeit. War ihr kleines Projekt »Casimir« wirklich geeignet, irgendetwas von diesem großen Feuer zu verstehen? Der Zeitpunkt des Experimentes war gar nicht mehr so fern – und sie die Leiterin, der wissenschaftliche Kopf? Saß abgeschnitten von der Welt in einem hässlichen Apartment in den Bergen, ohne Telefon und ohne Computer, und wartete darauf, dass ihr eine unbekannte Patricia Brot und etwas Orangensaft brachte. Gratuliere, Frau Professor. Alles bestens im Griff … Schöne Grüße nach Amsterdam, lieber Luca: Der Tipp mit deinem Bruder war ganz schlecht. Die Zeit zurückdrehen … Vielleicht wäre das der Zeitpunkt, an dem ich etwas ändern würde, wenn ich könnte … Vielleicht würde ich dich nicht noch mal anrufen, in meiner Not. Aber wen dann?
15
Die tödliche SMS
Nach außen ließ sich Gabriel Tretyak, der Bankier, nichts anmerken. Das war ihm wichtig. Der Chef der Bank war der Chef der Bank, ein Herr, etwas Besonderes, er durfte keine Gefühle zeigen, auf keinen Fall. Wie würde das aussehen, wie würde es wirken, wenn er etwa zeigen würde, dass er Angst hatte? Schwäche? Der Mann ganz oben? Nein, es musste weitergehen wie immer, alles musste laufen wie immer. Morgens um halb acht kam er ins Büro, immer bevor seine Sekretärin kam. Er wollte Vorbild sein, auch in diesem Punkt.
Einem sehr guten Beobachter wäre vielleicht aufgefallen, dass er in diesen Tagen noch luxuriöser gekleidet war als sonst. Als könnte ihn der Reichtum panzern. Er trug seine teuersten Pferdelederschuhe, jedes Paar mehr als 30000 Dollar wert, seine edelsten Maßanzüge und eine ganz neue Uhr, eine wirkliche Antiquität, eine Rolex aus dem Jahr 1931, bei der der Name Rolex noch nicht im Zifferblatt stand, sondern
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