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Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)

Titel: Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
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erreicht hatte. Das bohrende Hungergefühl war weg, auch die Nervosität, dieses aufgekratzte Pochen, das den ganzen Körper durchzog. Er fühlte sich matt, unendlich erschöpft, sein Magen schmerzte. Obwohl er lag, beherrschte ihn eine Art Schwindel, der Raum schwankte wie auf einem Schiff. Es kostete ihn große Kraft, sich auf die Monologe zu konzentrieren, die aus dem Lautsprecher kamen, immer ausufernder, immer böser – natürlich nicht im Ton, die Stimme blieb stets gleich. Wenn er wegglitt und nicht zuhörte, bezahlte er meistens mit einem Stromstoß. Trotzdem kam es vor, dass er nur Bruchstücke wahrnahm.
    »… deshalb fehlt Ihnen jegliche moralische Orientierung, Sie sind als Kind stehengeblieben, ein Muttersöhnchen, das alle Maßstäbe verliert, wenn die Mami nicht da ist …«
    Was konnte er dazu sagen?
    Nichts.
    Der Stromstoß kam nicht. Es war still, und es blieb still im Lautsprecher. Er dachte an Mandelbaum, an Luigi, an Maler, an Lichtinger. Sein Sicherheitsnetz war eine Pleite. Aber warum? Hatte er den falschen Leuten vertraut? Er dachte an Carola. Plötzlich registrierte er eine Veränderung an seinem rechten Handgelenk. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sich eine Fessel gelockert hatte. War das eine Chance? Stunden hatte er damit zugebracht, den Verlauf der Sonne im Fenster zu beobachten, in der Hoffnung, es ließe sich vielleicht mit Hilfe des Fernrohrs die Wirkung eines Brennglases erzeugen. Aber das Rohr war etwa einen Meter von seinem linken Fuß aufgestellt. Und die Sonne stand zu flach im November. Aber eine gelockerte Fessel … Er musste vorsichtig sein, weil er sicher war, dass man ihn irgendwie beobachtete – durch einen Spiegel oder eine Kamera.

    Sein Stuhl drehte sich. Der Beamer ging an. Verdunkelung brauchte man nicht mehr, es war offensichtlich Nacht. Das Bild an der Wand zeigte einen kleinen Jungen, vier, fünf Jahre alt, in kurzen Lederhosen und einem karierten Hemd. Es war ein Schwarzweißfoto, ziemlich alt. Der Junge lächelte etwas schief in die Kamera.
    »Ist das nicht ein netter Junge?«, meldete sich die Stimme aus dem Lautsprecher. »Wissen Sie, wer das ist, Herr Tretjak?«
    »Nein«, antwortete er.
    »Sagt Ihnen der Name Senne etwas?«
    »Sicher.«
    »Natürlich, der Name Senne sagt allen Menschen etwas. So wie jeder Mensch das Wort Grausamkeit kennt. Das ist mein Vater, ein lustiger Bub. Martin Senne. Niemand war so grausam wie mein Vater.«
    Das Bild wechselte. Wieder ein Junge, auch in Lederhosen, diesmal in Farbe, ein neueres Foto.
    »Das bin ich«, sagte die freundliche Frauenstimme. Und dann kamen noch fünf solcher Bildpaare. Immer die beiden, in unterschiedlichen Altersstufen. »Erkennen Sie die Ähnlichkeit, Herr Tretjak? Sie sind doch der Regler, was kann man da machen? Wer möchte schon so sein wie Martin Senne?«
    Tretjak hatte das rechte Handgelenk befreit, die Fessel lag noch darum, aber er hätte die Hand herausziehen können. Im Dunkeln müsste es unbemerkt möglich sein. Aber er hatte keine Ahnung, ob sein Körper überhaupt noch wie gewohnt funktionierte.
    »Alle stehlen sich irgendwie davon«, kam es aus dem Lautsprecher. »Die einen sitzen beim ›Käfer‹ und fressen und kichern über die Welt. Die anderen hocken unter falschem Namen irgendwo auf Tonnen des Blutgelds und zahlen damit Prostituierte und Maßanzüge und Yachten und Hausangestellte und Blumenbouquets. Keiner fragt sich, wie viel er von der DNA des Vaters geerbt hat, wie viel Widerlichkeit und wie viel Verbrecher in ihm steckt. Jeder reimt sich sein moralisches Alibi zusammen. Keiner von denen zahlt den Preis seines Namens, seiner Herkunft. Das kotzt mich an, das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Damit ist aber jetzt Schluss, endgültig. Sie glauben gar nicht, wie befreiend dieser Entschluss für mich war: Ich stürze mich in meinen Untergang, ich zerfetze mein widerliches Leben. Aber ich zerfetze auch das Leben der anderen, wenigstens von ein paar von denen. Die vier Kattenbergs sollten sich am Ende noch einmal daran erinnern, woher sie kommen. Und Sie, Herr Tretjak, sollten sich noch einmal daran erinnern, was Sie getan haben. Sie haben mitgeholfen. Sie haben abkassiert. Schämen Sie sich nicht, Herr Gabriel Tretjak?«
    Fast hätte Tretjak gesagt: Ja. Und zwar nicht, weil er einen Stromschlag vermeiden wollte, sondern weil er es einmal sagen wollte, sagen musste. Diese Leute waren Gift, allesamt, das Gift ihres Namens hatte sie durchdrungen, auf

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